Rezensionen

Hier findest du alle von der Lotte veröffentlichten Rezensionen der letzten zwei Jahre.

Wenn du die neuen Rezensionen per Newsletter erhalten möchtest, kannst du dich gerne bei backbord anmelden, darüber verschicken wir Neuigkeiten von der Lotte. Schreib entweder ein Mail an backbord@immerda.ch oder melde dich HIER selbst an.
>>Momentan werden keine neuen Rezensionen verschickt!
Du kannst dich aber trotzdem bei backbord anmelden um Infos zu Veranstaltungen und Standortwechsel der Lotte zu erhalten.

Rezension Nr. 50

Yu Pei-yun und Zhou Jian-xin – Tsai Kun-Lin, Di gestohlenen Jahre

Graphic Novel aus Taiwan – Baobab Books – 2023 – ISBN 978-3-907277-15-5

Nun ist er endlich da der zweite Band der vierteiligen Grahic Novel aus Taiwan.
Kurze Rückblende, was im ersten Band geschah:
Tsai Kun- Lin, geboren in eine taiwanische Familie im Jahr 1930, zu diesem Zeitpunkt war Taiwan schon über 30 Jahre japanische Kolonie, überlebt im Alter von 5 Jahren ein schweres Erdbeben, das einen Grossteil der Insel und das Haus der Familie Tsai zerstört. Einige Jahre später macht auch der 2. Weltkrieg nicht halt vor der Insel, die immer wieder Schauplatz der imperialistischen Mächte wurde. Wieder ergreift ein fremdes Regime die Macht auf der Insel.

Und nun im zweiten Band ist Tsai Kun-Lin nicht mehr der kleine Junge. Im Alter von knapp 20 Jahren wird er festgenommen und mittels erzwungenem Geständnis verurteilt- 10 verlorene Jahre verbringt er im Gefängnis auf der Insel Lü Dao. Die Trennung von seiner Familie macht ihm noch mehr zu schaffen als die düsteren Haftbedingungen. Das einzige, was ihn durchhalten lässt ist die Menschlichkeit unter den Gefangenen.

Die düsteren Haftbedingungen sind in diesem fast ausschliesslich in Grautönen gehaltenen Band förmlich spürbar. Die seltenen Momente, in denen ein scheuches Blau auftaucht sind zauberhaft und hoffnungsvoll. Ja, es gibt ein Leben ausserhalb des Gefängnisses, ausserhalb der kargen Verpflegung und der harten Arbeit, die die Gefangenen leisten müssen. Schon beim Durchblättern wird spürbar, dass die nicht einfachen aber doch liebevollen Kinderjahre vorbei sind. Es folgen die dunklen, die verlorenen Jahre.
Es ist ein schwerer Band, der wie der erste wunderschön, liebevoll und detailreich gestaltet ist. Die schönen Bilder brechen immer wieder die Härte des Gefängnisalltags. Und auch diese düsteren Jahre nehmen ein Ende, das Blau taucht gegen Ende dieses zweiten Bandes doch immer öfter auf und lassen hoffen.

Yu Pei-yun und Zhou Jian-xin haben mit diesem zweiten Teil der Serie wieder bewiesen, wie spannend und wunderschön Tsai Kun-Lins Geschichte erzählt werden kann. Der Band lädt ein zum Bilder bestaunen, recherchieren und hoffen. Der einzige Wermutstropfen: wann kommen Band 3 und 4? 😉

Baobab Books hat sich darauf spezialisiert Bilderbücher, Kindergeschichten und Jugendromane aus aller Welt in deutscher Übersetzung zu verlegen, zur Förderung kultureller Vielfalt in der Kinder- und Jugendliteratur. Mit diesem Schmuckstück aus Taiwan haben sie einmal mehr ihr gutes Gespür bewiesen, spannende und in diesem Fall auch wunderschöne Literatur aus einem Land, das in unseren Büchergestellen nicht grossflächig repräsentiert ist, im deutschsprachigen Raum sichtbar zu machen. Ein herzliches Dankeschön für diese tolle und wichtige Arbeit. Die beiden Bände kann ich nur empfehlen und ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht :).

Rezension Nr. 49

Diaty Diallo – Zwei Sekunden brennende Luft

Roman – Assoziation A – 2023 – ISBN 978-3-86241-501-4

TW: Rassistische Polizeigewalt

Das Buch ist da! Schon die Ankündigung versprach Gutes, doch es nun in den Händen zu halten, einen Blick drauf, einen weiteren rein zu werfen, lässt mich staunen. Was für ein SCHÖNES Buch! Die Gestaltung sowohl von Cover als auch der Seiten, der Kapitel- ich bin baff. Grossartig!

„Zwei Sekunden brennende Luft“ von Diaty Diallo ist ein Roman der in einer Banlieue von Paris spielt. Die Geschichte erzählt in der Ich- Form von Astor und seinen Freund:innen, die dort ihre Zeit, ihr Leben verbringen. „Sie kennen sich schon ewig, teilen alles miteinander, von kleinen Abenteuern über grosse Grillpartys bis hin zu den alltäglichen Schikanen der Polizei, die misstrauisch beäugt, kontrolliert, festnimmt und immer wieder massiv angreift.
Ein Tag im Juli, die Luft steht vor Hitze. Am Abend hängen die einen noch auf der Betonplatte ab, während die anderen schon feiern. Ein klassischer Sommerabend, bevor plötzlich die Luft vernebelt wird, die Geräusche verschwimmen, Augen brennen und Tränen fliessen. Ein wahres Chaos. Es kommt, wie es kommen musste: Festnahmen, Polizeigewahrsam. Und Samy, einer von ihnen, wird von der Polizei erschossen. Ein Tropfen, ein Ozean – zu viel.“

Und dann fange ich an zu lesen und bin sprachlos. Gefangen in der Sprache von Diaty Diallo, die wie in einem Atemzug diese Geschichte erzählt. Die Geschichte von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich verlieben, sich treffen, zusammen abhängen, Grills aus alten Fässern bauen, zusammen Musik hören, Computerspiele spielen, kiffen, Runden auf Motos drehen. Normal halt. Fast langweilig. Das Leben von Jugendlichen/ jungen Erwachsenen halt. Wären diese nicht „Schwarz oder Araber“, kein Mensch würde sich dafür interessieren, wie sie ihre Zeit verbringen. Sie sind es aber und genau das macht sie zur Zielscheibe der Polizei, der Bullen, dieser Typen in Blau.

Diallo zeichnet Astor und seine Freund:innen so nah, so menschlich, erzählt ihre Geschichte mit solcher Bravour, dass mensch beim lesen glaubt, Astor, Chérif und die Crew schon lange zu kennen. Und das kommende Drama, das Nicht-Fassbare, den Tropfen, den Ozean schon von Beginn an spürt. Es liegt in der Luft wie das Tränengas, das Astor kaum atmen lässt und dem Issa entfliehen kann.

Die Sprache, auch in der deutschen Übersetzung, lässt den französischen Rap erahnen. Sie ist treibend, ausrufend und anklagend und nimmt immer wieder Bezug auf Musik, die am Ende des Buches wie ein Soundtrack der Geschichte aufgelistet wird. Alle paar Seiten denke ich: Was für ein Zitat!!! So wahr!!! Und kann doch nicht stoppen um sie anzustreichen oder raus zu schreiben. Weiterlesen. Die Nacht ist zu kurz, ich zwinge mich dazu extra langsam zu lesen, um die Sprache noch mehr geniessen zu können. Die letzten Seiten lese ich im Zug und immer wieder kommen mir die Tränen. Egal. Das Buch ist so bewegend, tief, ehrlich, nah, dass es mir egal ist, was um mich herum passiert. Wenn ich es in ein Wort packen muss, kommt mir nur „sensationell“ in den Sinn. Es ist sehr lange her, dass mich ein Buch derart tief bewegt und berührt hat. Nachdem ich es fertig gelesen hatte, musste ich es noch lange in den Händen halten um die Worte nachhallen zu lassen. Ihnen und der Geschichte Raum zu geben.

Diaty Diallo ist selbst in einem Vorort von Paris aufgewachsen und wohnt noch immer dort. „Als Afrofeministin finde ich, dass etwas Misandrie, sogenannter Männerhass, politische Macht haben kann- als Werkzeug, nicht als Zweck an sich, als Motor, der eine Form von Radikalität und Dringlichkeit ausstrahlt. Es ist wichtig, Nuancen zuzulassen, besonders unter „uns“: etwa unter Frauen oder Schwarzen Frauen. Aber gegenüber den Unterdrückern können wir uns Nuancen nicht leisten. Hier muss die Rede sehr klar und radikal sein, denn wir befinden uns durch den Aufstieg der extremen Rechten in einer radikalen Zeit.“

Dieses Buch ist Fiktion und doch hat sie diese radikale Sprache gefunden. Und gibt all denen eine Stimme, über die sonst immer nur erzählt wird.

In diesem Sinne: eine SENSATION, die es nach den Filmen „Ma 6T va crack-er“ (Brennender Asphalt) und „La Haine“ (Hass) und dem Lied „La Rage“ verdient hat, ebenso ein Klassiker zu werden!

Um es in den Schweiz-Kontext zu setzen:
Etwas mehr als zwei Jahre ist es nun her, dass der 37-jährige Nzoy aus Zürich in Morges von der Polizei erschossen wurde. Seither kämpfen seine Familie und Freund:innen um eine juristische Aufarbeitung des Falles. Alle involvierten Polizeibeamten sind nach wie vor im Dienst und tragen eine Waffe. Am Samstag 21.10.2023 ist die grosse Demo in Zürich, hier gibt es mehr Infos dazu: https://justice4nzoy.org/demonstration-rassismus-toetet-21-10-2023/

Und weil die extreme Rechte auch hier gerne unterwegs ist:
Mass-Voll, Freiheitstrychler und weitere rechte Akteure sowie Verschwörungstheoretiker:innen mobilisieren für Samstag, den 21. Oktober, zu einer «Dreiländer-Demo» nach Basel. Besammlungsort soll der St. Johanns-Park sein. Das wollen wir nicht zulassen! Deshalb rufen wir alle dazu auf, sich diesem Aufmarsch entgegenzustellen! Auch am Samstag 21.10.2023 in Basel, mehr Infos gibt es hier: https://baselnazifrei.info/blog/basel-bleibt-nazifrei-den-rechten-aufmarsch-verhindern

In diesem Sinne: Fäuste in die Luft für Mike Ben Peter, Subranamiam H., für Nzoy und alle andere!
(mehr Infos siehe https://stop-racial-profiling.ch/de/gerichtsfaelle/helvetzide/)

Und dem Verlag Assoziation A danken wir von Herzen für das Rezensionsexemplar!

Und dann fange ich das Buch noch einmal von vorne an zu lesen, dieses mal höre ich mir die Lieder dazu an und tauche noch einmal ein…

Rezension Nr. 48

Peter Metz – Kaliszko. Mannheim, Sommer 1974

Roman – Edition H. Schroeder – 2021 – ISBN 978-3-9818262-8-9

Polizeigewalt als Kontinuität

Peter Metz Roman befasst sich auf sehr eindrückliche Weise mit den Ereignissen um den Tod des 23-jährigen Hannes Kaliszko, welcher am 17. Juli 1974 von einem Polizisten getötet wurde.

Der Roman setzt sich auf sehr feinfühlige und prägnante Weise mit der Position der betroffenen Familie auseinander und zeigt auf, wie von staatlicher Seite eine Schuldumkehr lanciert wird. Dahingehend gelingt dem Autor durch die asynchrone Erzählweise ein pointierter Einblick in die Lebensrealitäten und sozialen Zustände, sowie der gesellschaftliche Stimmung des Mannheim in den 1970ern und ermöglicht die Einbettung der Geschichte des betroffenen Hannes Kaliszko und dessen Familie, Freund*innen und Kolleg*innen in den gesellschaftspolitischen Gesamtkontext. Dabei schafft es der Autor nah am Geschehen und den Menschen zu sein ohne dabei voyeuristisch zu wirken.

Das Thema Polizeigewalt klingt an, da es auch heute allgegenwärtig ist. Gerade aus dieser Sicht ist der Roman beeindruckend und empfehlenswert. Die Kontinuitäten von Repression, Polizei- sowie Staatsgewalt werden spürbar und begreifbar. Und der Roman zeigt auf welchen Einfluss Klasse und Herkunft der betroffenen Menschen auf den Diskurs um Verantwortung und Schuldumkehr haben.

Das ist meines Erachtens der grösste Gewinn des Roman: das dieser uns vor Augen führt wie unverändert sich gesellschaftliche Zustände zeigen. Dahingehend kann der Roman auch als Plädoyer verstanden werden gegen diese Zustände immer wieder und fortwährend Aufzubegehren!


Rezension Nr. 47

Yu Pei-yun und Zhou Jian-xin – Tsai Kun-Lin, Der Junge, der gerne las

Graphic Novel aus Taiwan – Baobab Books – 2023 – ISBN 9783907277171

Ich wusste es schon, bevor ich das Buch angefangen habe zu lesen: es ist der 1. Band einer vierteiligen Serie, Band 2 und 3 sollen im Herbst 2023 erscheinen, Band 4 im Jahr 2024. Und doch bin ich wieder «reingefallen»- natürlich wollte ich unbedingt wissen, wie es weitergeht. Es ist wie eine Serie, die mensch nicht zu Ende schauen kann. Die Spannung bleibt. So muss ich mich also gedulden, bis die nächsten Bände erscheinen. Schwierig… 😉

Aber erstmal von vorne.

Yu Pei-yun und Zhou Jian-xin sind die beiden Autor:innen/ Zeichner:innen dieser Graphic Novel aus Taiwan. Sie erzählen die Geschichte von Tsai Kun- Lin, geboren in eine taiwanische Familie im Jahr 1930. Zu diesem Zeitpunkt war Taiwan schon über 30 Jahre japanische Kolonie. Im Alter von 5 Jahren überlebt er ein schweres Erdbeben, das einen Grossteil der Insel und das Haus der Familie Tsai zerstört. Einige Jahre später macht auch der 2. Weltkrieg nicht halt vor der Insel, die immer wieder Schauplatz der imperialistischen Mächte wurde. Wieder ergreift ein fremdes Regime die Macht auf der Insel. Und nun kommt es zum Höhepunkt dieses Bandes, der den Spannungsbogen hoch hält und die Lesenden in grosser Erwartung der nächsten Bände zurück lässt.

Die Biographie ist sehr sensibel und wunderschön erzählt. Das Buch ist in Grautönen und Rosa gehalten, zurückhaltende Farbgebung mit grossem Feingespür für die Momente zwischen den Zeilen. Die Zeichnungen sind Kunstwerke, die zum Träumen und Anschauen einladen. Die Seiten kreativ und stimmig choreographiert. Die Schwierigkeit, die drei Sprachen, die im Buch gesprochen werden, auch im Deutschen darzustellen, wurde durch unterschiedliche Schriftfarben gut gelöst.

Ich hab das Buch ausgepackt und wollte nur kurz rein schauen – schon war ich gefangen in dieser Welt vor fast 100 Jahren am anderen Ende der Welt, von der hier so wenig Geschichte bekannt ist. Mich hat das Buch auf vielen Ebenen fasziniert: Die Gestaltung und die Zeichnungen sind wunderschön und haben mich tief berührt, die Übergänge zwischen den einzelnen Bildern sind sehr gelungen. Aber auch die Art, wie die Geschichte erzählt wird, erschwert es, das Buch vor dessen Ende aus der Hand zu legen. Mich hat es dazu gebracht, die Geschichte der Region zu recherchieren – die Idee von Baobab Books hat sich also mal wieder erfüllt.

Der Verlag Baobab Books hat sich darauf spezialisiert Bilderbücher, Kindergeschichten und Jugendromane aus aller Welt in deutscher Übersetzung zu verlegen, zur Förderung kultureller Vielfalt in der Kinder- und Jugendliteratur. Mit diesem Schmuckstück aus Taiwan haben sie einmal mehr ihr gutes Gespür bewiesen, spannende und in diesem Fall auch wunderschöne Literatur aus einem Land, das in unseren Büchergestellen nicht grossflächig repräsentiert ist, im deutschsprachigen Raum sichtbar zu machen. Ein herzliches Dankeschön für diese tolle und wichtige Arbeit. Das Buch kann ich nur empfehlen und ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht :).

Kurze Vorschau: Band 2 soll im Herbst 2023 erscheinen, Band 3 2024 🙂

Rezension Nr. 46

Taiye Selasi – Ghana must go

Roman – Penguin Fiction – 2013 – ISBN 978-0-670-91988-8

Das Buch ist auf Englisch in der Lotte verfügbar.

Selasi erzählt die Familiengeschichte der Sais, einer nigerianisch – ghanaischen Familie, die in den USA lebt. Durch eine Ungerechtigkeit und Scham wird sie auseinander gerissen, über den Erdball verteilt und erst durch den Tod des Vater, viele Jahre später, wieder zusammen gebracht. Die zerrissenen Strukturen, die die Familie über lange Zeit geprägt haben, kommen ans Licht und die Frage ist, ob Heilung möglich ist.

Der Plot ist nicht aussergewöhnlich. Selasi erzählt eine bewegte Familiengeschichte von innen und wie die unterschiedlichen Charaktere mit den Herausforderungen des Lebens und ihrer persönlichen Geschichte umgehen. Dabei springt sie erzählerisch zwischen den Familienmitgliedern hin und her, sodass in die Gedankenwelt der einzelnen Protagonist:innen eingetaucht werden kann.

Das Buch hat mich nur zu 98% gepackt, da mich der literarische Schreibstil manchmal von der Geschichte ferngehalten hat. Und doch bin ich voll in die Geschichte um Olu, Taiwo, Kehinde, Sadie und Fola eingetaucht. Selasi schafft es gut, ein Bild einer Familie zu zeichnen, in dem die Geschwister sich für unterschiedliche Lebensentwürfe entscheiden und der Umgang mit der eigenen Herkunft ganz verschieden ist.

Es ist ein scheues: Ja, es lohnt sich dieses Buch zu lesen. Irgendwie spannend, aber ein bisschen Zweifel bzgl. des Schreibstils bleiben. Aber das ist ja bekanntlich
Geschmackssache 🙂



Rezension Nr. 45

Tore Rørbæk, Mikkel Sommer – Shingal. Flucht vor dem Genozid

Comic – bahoe books – 2020 – ISBN 978-3-903290-39-6

Der Comic „Shingal“ von Tore Rørbæk und Mikkel Sommer erzählt die Geschichte von den Brüdern Mazlum und Asmail, die im Sommer 2014 um ihr Leben und das ihrer Familien kämpfen. Zusammen mit tausenden anderen Jesid*innen fliehen sie vor dem Islamischen Staat (IS) auf den Berg Shingal. Über 50‘000 Menschen harren schliesslich auf dem Berg unter freiem Himmel aus, bei Temperaturen bis zu 50 Grad, ohne Wasser, ohne Schatten.

Das Buch erzählt die Geschichte des Genozids an den Jesid*innen, begangen durch den IS im Sommer 2014 auf irakischem Staatsgebiet. Es ist der bislang einzige von der UNO anerkannte Genozid im 21. Jahrhundert. Schätzungen zufolge wurden rund 5‘000 Menschen ermordet, zwischen 6‘000 und 7‘000 Frauen und Kinder entführt und rund 400‘000 Menschen vertrieben.

„Shingal“ erzählt diese grauenhafte und traurige Geschichte mit eindrucksvollen Bildern in satter Farbe. Am Schluss des Buches findet sich ein Nachwort von Thomas Schmidiger, in diesem finden sich noch zusätzliche Informationen zum Genozid, zur jesidischen Religion, zu antijesidischen Ressentiments, sowie ein kurzer Abschnitt zu Jesid*innen in Europa.

Und wie es auch in eben diesem Nachwort heisst: „Diese Geschichte muss […] erzählt werden, nicht nur um sie nicht zu vergessen, sondern auch, weil für die Überlebenden ihre Qualen bis heute andauern. Nur ein Teil der Vertriebenen konnte bislang in ihre Heimat zurückkehren. […] Möge diese […] Graphic Novel von Tore Rørbæk und Mikkel Sommer dazu beitragen, dass die Verfolgungsgeschichte der Jesid[*inn]en auch im deutschsprachigen Raum einem grösseren Publikum nahe gebracht wird.“


Rezension Nr. 44

Susan Abulhawa – Against the loveless world

Roman – Bloomsbury – 2020 – ISBN 978-1-5266-1881-8

Das Buch ist auf Englisch in der Lotte verfügbar.

Die letzte Seite ist fertig gelesen, auch die Acknowledgements, das Buch ist durch, und nun? Es sind da diese Gedanken um die Ich- Erzählerin Nahr, um Bilal, um deren Familien und das Land. Es bleibt erst einmal die Ruhe und dann all diese Fragen.

Abulhawa erzählt die Geschichte von Nahr, einer jungen Palästinenserin, die in Kuwait aufwächst, fliehen muss, sich Stück für Stück radikalisiert, nach Palästina zurückkehrt, im Widerstand („oder was Israel Terrorismus nennt“) kämpft und schliesslich in einem Gefängnis in Israel landet, wo sie ihre Erinnerungen aufschreibt.

Dieses literarische Werk ist eine Reise durch das derzeitige und vergangene Leben der Hauptfigur. Im Kern ist es eine Liebesgeschichte, eine Familiengeschichte. Aber es ist viel mehr als das. Es ist der Einblick in eine Welt mit starken, muslimischen Frauenfiguren, Sexarbeit, Flucht, gesellschaftlichen Normen, Freund:innenschaft, Homosexualität, ein Einblick in die Zerrissenheit in einer solch aussichtslosen Situation wie der Israelisch- Palästinensischen. Abulhawa schafft es dabei, die Lesenden in Nahrs Gedankenwelt eintauchen zu lassen, ohne wieder auftauchen zu wollen – ich habe das Buch verschlungen und konnte es kaum weglegen.

Das 11- seitige Glossar zu Beginn des Buches hilft ausserdem, das Verständnis für all die arabischen Begriffe, die im Buch vorkommen, zu vereinfachen.

Und doch bleibt da dieser Zweifel: das Buch ist gespickt von Israelkritik bis hin zu antisemitischen Aussagen eines Charakters im Buch. Wie ist damit umzugehen? Nachdem ich das Buch gelesen hatte, habe ich die Wikipedia Seite zu Susan Abulhawa gelesen. Dort steht, dass sie Gründungsmitglied von BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) sei. (Zur BDS haben wir ein anderes Buch in der Lotte, das genauso tendenziös geschrieben ist, nur von anti-deutscher Sicht her, daher am besten beide Bücher lesen…) Damit fiel es mir einfacher, das Buch einzuordnen.
Und ja, auch wenn das Buch tendenziös geschrieben ist und ein Charakter antisemitische Aussagen macht, so überwiegt bei mir doch die Freude darüber, endlich muslimische Frauenfiguren als handelnde Subjekte und nicht als Objekte zu lesen. Dass Sexarbeit auf eine nicht bevormundende Art und Weise dargestellt wird. Dass Fluchtgeschichte „von Innen“ erzählt wird.

Abulhawa schreibt am Ende, dass das Buch auf eigenen Erfahrungen, Nachforschungen und Erfundenem basiert. Dabei möchte sie einen Raum der Dankbarkeit schaffen, allen „Mädchen (und Jungen) und Frauen, die ihre Körper verkaufen um zu überleben, oder zu entfliehen, oder Dämonen weiterzutragen, die nicht vertrieben werden können.“

„Reads as a riot act against oppression, misogyny, and shame“ schreibt Fatima Bhutto auf dem Buchrücken, dem bleibt nicht viel hinzuzufügen, ausser: unbedingt lesen!

Rezension Nr. 43

supporto legale – Nessun Rimorso Genova 2001-2021

Sachbuch/Comic – Coconino Press- Fandango – 2021 – ISBN 9788876185700

Das Buch ist auf Italienisch in der Lotte ausleihbar.

Das Buch wurde vom supporto legale herausgegeben, einer Art „Roten Hilfe“, die sich 2004 in Genua gegründet hat. Die Idee ist, dass die betroffenen Menschen, die am G8 in Genua 2001 aktiv waren, nicht alleine gelassen werden und sie Unterstützung auf rechtlicher, finanzieller und sozialer Ebene erhalten. Schon 2006 gab es eine erste Edition: „GEvsG8“, ein Comicband, der schon eine erste Aufarbeitung des G8- Gipfels darstellte.

Nun ist nach 15 Jahren die zweite Edition erschienen. Neue Inhalte, neue Texte, neue Zeichnungen, alte Geschichte. Die staatlichen Verbrechen, die in Genua stattfanden, die nicht aufgearbeitet wurden. Menschen, die für eine eingeschlagene Scheibe kriminalisiert wurden (10 Personen mit Gefängnisstrafen von zusammen 100 Jahren), während ein toter Demonstrant als Kollateralschaden angeschaut wird. Die Repression ist nach wie vor dieselbe, beim G8 in Hamburg hat es sich gezeigt, dass sich das System auch nach Genua nicht geändert hat.

Dieses wichtige und wunderschöne Buch erzählt noch einmal gesammelt die Geschichten von Bolzaneto, von der Piazza Alimonda, von der Diaz- Schule und der „Roten Zone“.

Mit den Werken von 37 Künstler:innen (leider fast ausschliesslich Künstlern) ist es ein visuelles Eintauchen in die Welt um Genua, den G8, Menschen, die dabei waren und Geschichten von denen, die nicht dabei waren, und immer wieder der Feuerlöscher. Es hat mich teilweise zu Tränen gerührt und es berührt mich nach wie vor. Man möchte diese unermessliche Ungerechtigkeit rausschreien. Dies macht dieses Buch. Es ist wichtig, diese Erinnerung wach und lebendig zu halten.

Genova non é finita.

Rezension Nr. 42

Kyle Lukoff – When Aidan Became A Brother
Illustriert von Kaylani Juanita

Bilderbuch – Lee & Low Book Inc. – 2019 – ISBN 978-1-62014-837-2

Das Bilderbuch ist in der Lotte nur in der Englischen Version verfügbar.

When Aidan Became A Brother, auf deutsch etwa ‘Als Aidan zum Bruder wurde’, ist die Geschichte von Aidan und seiner Familie.

Als Aidan zur Welt kam, dachten seine Eltern er sei ein Mädchen, gaben ihm einen Mädchennamen, ein Zimmer das wie ein Mädchenzimmer aussah und zogen ihm Kleider an, die andere Mädchen gerne trugen. Aber Aidan ist kein Mädchen. Auch keines der „eigenwilligen“ Mädchen, die auch keine Kleider anzogen und gerne im Dreck spielten. Aidan ist ein Junge, das weiss er genau und zum Glück unterstützen ihn seine Eltern seine Geschlechtsidentität so zu leben wie er es fühlt.

Als Aidans Eltern ein zweites Kind erwarten, nimmt Aidan seine Rolle als zukünftiger grosser Bruder sehr ernst. Er möchte dem jüngeren Geschwister einige der Kämpfe ersparen, die er selber ausfechten musste. Und so lernt er, zwischen der Suche nach geschlechtsneutralen Namen, den richtigen Farben für das Zimmer des Babys und nervigen Leuten die fragen: „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“, dass das Wichtigste ist, ein Kind so zu lieben wie es ist. Und dass das auch sein wichtigster Part als grosser Bruder sein wird.

Ein tolles Buch für Gross und Klein, für werdende Eltern und Geschwister, für solche die es schon sind und auch für die, die ohne Elter zu sein, Freude an schönen Geschichten haben! 

Rezension Nr. 41

Maaza Menigste – The Shadow King
Roman – Canongate books – 2019 – ISBN 978-1-83885-117-0

Sprache: Englisch

Das Buch „The Shadow King“ der äthiopischen Schriftstellerin Maaza Mengiste widmet sich einem der vielen unbeachteten Momente der Geschichte und gibt uns die Möglichkeit unsere eurozentristische Perspektive mittels einer postkolonialen und feministischen Erzählung zu erweitern.

Das Buch spielt 1935 in Äthiopien und setzt sich mit dem Widerstandskampf gegen den italienischen Faschismus und Kolonialismus sowie der Rolle der Frauen darin auseinander. Dabei ist es Maaza Mengiste ein Anliegen sichtbar zu machen, dass und wie der Widerstandskampf von Frauen mitgetragen wurde – Ein Fakt der in der geläufigen historischen Erzählung verschwiegen und unsichtbar gemacht wird.

Dabei bleibt die Erzählung der beiden Protagonist*innen Hirut und Aster nicht eindimensional, sondern verdeutlicht eindrücklich wie diesen kämpfenden Frauen auf vielschichtige Art Gewalt von allen Seiten begegnet. Die Autor*in zeichnet die Frauen als selbst wirksam indem sie sich entschliessen sich aktiv am Widerstand zu beteiligen und setzt damit einen Kontrapunkt nicht nur gegen den patriarchalen Blick der Frauen als passive Objekte, sondern auch entgegen dem kolonialen exotisierenden Blick der afrikanischen Frau als sexualisiertes Objekt.

Auf einer weiteren Ebene zeichnet die Autor*in die Wirkmächtigkeit von Bildern nach, indem sie als weiteren Protagonisten einen jüdischen italienischen Soldaten als Kriegsfotograf in die Geschichte einbindet. Wie die Autor*in beschreibt, dient die Kamera als Waffe – nicht nur durch die Dokumentation von Gewalt und Gräueltaten, sondern vor allem auch dadurch, dass diese entscheiden welche Bilder im kollektiven Gedächtnis bleiben.

Beeindruckend an dem Roman ist die facettenreiche und poetische Sprache der Autor*in, welche sich unglaublich gut mit der inhaltlichen Tiefe des Romans ergänzt und einem beim Lesen auf eine besondere Art in die Story involviert.

Sehr empfehlenswert!

Rezension Nr. 40

Amitav Ghosh – The Nutmeg´s Curse – Parables for a Planet in Crisis
Sachbuch – John Murray – 2021 – ISBN 978-1-529-36943-4

Sprache: Englisch

Wie lässt sich so ein dichtes Buch in ein paar Zeilen abkürzen?

All die weltpolitischen Ereignisse der letzten fast 600 Jahre werden benannt und in Zusammenhang gebracht – ausgehend von der Covid Pandemie, Black Lives Matter, der sogenannten Migrationskrise, Militarismus, vor allem aber die Dynamiken der Klimakrise.

Als Ursache für ebendiese sieht Ghosh die jahrhundertealte geopolitische Weltordnung, die durch den westlichen Kolonialismus konstruiert wurde. So zeichnet Ghosh anhand der Muskatnuss eine Parabel für heutige Kriege und die Machtstrukturen der heutigen Welt.

Ghosh argumentiert, dass aufgrund der ab dem 16. Jahrhundert von Europa ausgehenden Mechanisierung der Welt und des Menschen, die allem ihren spirituellen Wert abspricht, um sie ausbeuten zu können, der Kern des Übels liegt. Laut diesem mechanistischen Weltbild existiert die Welt als passiv und ihre Ressourcen seien nur dafür da, vom Menschen ausgebeutet zu werden – unsere heutige „rationale“, aufgeklärte Weltsicht. Die heutigen Machthierarchien und die Ausbeutung der Welt setzt Ghosh in den Zusammenhang der Weltgeschichte und legt für jedes Kapitel ein Schwerpunktthema fest.

„The Nutmeg´s Curse offers a sharp critique of contemporary society and speaks to the profoundly remarkable ways in which human history is shaped by non- human forces.“ So liest es sich im Klappentext.

Und das gelingt Ghosh. Ich habe selten ein so dichtes Buch gelesen. Fussnoten, Bibliographie und Index umfassen 80 Seiten! Anhand der Bibliographie wird den Menschen, die das Buch lesen, die Möglichkeit gegeben, viel tiefer ins Thema einzutauchen. Das ist grossartig und werde ich sicher auch tun. Immer wieder dachte ich: Ja, genau!!! WOW!!! Und einmal sind mir fast die Tränen gekommen – in der Bewusstwerdung, wie sehr wir (europäisch sozialisierten) Menschen hier doch Kinder dieses furchtbaren, ausbeuterischen Weltbildes sind und wie auch ich es verinnerlicht habe, dass die Welt einfach „ist“. Nicht aktiv, nein, Menschen sind ja schliesslich die einzigen, die Sprache und Gefühle haben.

Immer wieder stellt Gosh indigenes Wissen in Kontrast zum westlichen Weltbild. Es ist schön zu lesen, dass er eine grosse Wertschätzung vielen Menschen entgegen bringt, die nicht westlich sozialisiert wurden und die ihr traditionelles Wissen erhalten haben.

Das einzige, was mir am Schluss zu denken gegeben hat: durch die Masse an Zusammenhängen, die gemacht werden, bleibt ein bisschen der Eindruck der Oberflächlichkeit. So werden unglaublich viele spannende Themen wie z.B. die Einhegungen in Europa, die Konterbewegung der Allmende, nur mit 2-3 Sätzen behandelt. Sicher ist es nicht möglich, zu all den erwähnten Bereichen viel mehr zu schreiben, sonst wäre es ein Opus Magnum geworden. Manchmal hätte ich mir nur mehr Hintergrund gewünscht.

Es ist ein Buch, das ich unbedingt empfehlen kann und das bei mir noch lange nachhallt.

Während des Lesens hatte ich stets ein Album im Kopf, für mich der Soundtrack zum Buch:
Kae Tempest „The Book of Traps and Lessons“ – wahnsinnig tolles Album. Würde das Buch verfilmt werden, „Exterminate all the brutes“ von Raoul Peck wäre die Verfilmung eines der Kapitel.

Rezension Nr. 39



Jessica Love – Julian ist eine Meerjungfrau
Bilderbuch – deutschsprachige Ausgabe – Knesebeck – 2020 – ISBN 978-3-95728-364-1

Auf dem Nachhauseweg trifft Julian zusammen mit seiner Oma auf Meerjungfrauen. Julian ist begeistert. Er liebt Meerjungfrauen und wäre am liebsten selber eine. Zuhause setzt er seine Idee in Tat um und wird zur Meerjungfrau, als plötzlich die Oma ins Zimmer kommt… Doch die reagiert ganz cool und macht Julian ein wunderbares Geschenk.

Die Illustrationen im Bilderbuch von Jessica Love sind einfach grossartig. Bunt, verspielt, zauberhaft – ohne albern zu sein. Auch der Plot ist ernst und trotzdem mit einer grossen Leichtigkeit umgesetzt.

Das Buch hat mich echt begeistert. Eine tolle Story über Genderrollen, Selbstvertrauen und Eigenliebe. Auch für Erwachsene sehr zu empfehlen.


Rezension Nr. 38

Kätlin Kaldmaa/ Jaan Rõõmus – Lydia

Bilderbuch – Baobab Books Basel – 2022 – ISBN 978 3 907277 15 7

Wer ist Lydia?

Dieses schöne, in zwei ausgewählten Farben gehaltene Kinderbuch erzählt die Geschichte von Lydia Koidula. Hierzulande wohl eher unbekannt ist Lydia in Estland, woher das Buch stammt, wohlbekannt und geliebt und noch immer werden ihre Lieder gesungen.

So erzählt Kätlin Kaldmaa die Geschichte der aufgeweckten Lydia, wie sie zur Feder kam und für das Recht auf Selbstbestimmung kämpfte – wunderschön illustriert von Jaan Rõõmus. Doch nicht nur die Geschichte Lydias findet Platz in diesem Buch, sondern auch die bewegte Geschichte Estlands.

Kätlin Kaldmaa schafft es, diese spannende Biographie in Worte zu fassen, die für Klein und Gross verständlich und greifbar sind. Man folgt ihr von der Geburt in Vändra über ihre Kindheits- und Jugendjahre, in denen sie ihre Liebe zum Schreiben entdeckt bis ins Erwachsenenleben, in dem sie mehrere Gedichtbänder veröffentlicht, für die Zeitung schreibt, Theaterstücke übersetzt, Studienreisen unternimmt, für die Selbstbestimmung Estlands kämpft und, und, und…

Die liebevollen und detailreichen Illustrationen von Jaan Rõõmus laden zum Schauen und Träumen ein. Die Reduktion der Illustrationen auf zwei Farben geben dem Buch eine besondere Note, Jaan Rõõmus schaffte es mit diesen beiden stimmigen Farben dem Buch etwas Zauberhaftes zu verleihen.

Ich kann das Buch sowohl jungen als auch nicht mehr ganz jungen Menschen sehr ans Herz legen. Auch wenn es als Kinderbuch gedacht ist, ist es eine spannende und liebevoll illustrierte Biographie, die sich zu kennen lohnt. Das Buch macht gute Laune und ist empowernd. Es lohnt sich zu kämpfen!

Rezension Nr. 37

Amitav Ghosh – The Glass Palace

Roman – Harper Collins – 2000 – ISBN 9780006514091

„Yaar Arjun, think of where we`ve fallen when we start talking of good masters and bad masters. What are we? Dogs? Sheep? There are no good masters and bad masters, Arjun – in a way the better the master, the worse the condition of the slave, because it makes him forget what he is…“

Ich möchte die Rezension mit diesem Zitat beginnen. Es steht sinnbildlich für so Vieles, was in diesem Buch zwischen den Zeilen und manchmal ganz deutlich geschrieben steht. Aber ich fange mal vorne an. Um was geht es in diesem Buch? 

Es ist ein Roman, der über ein Jahrhundert zwischen den 1880ern bis in die 1990er Jahre spielt. Er erzählt die Geschichte von drei Familien in drei Generationen in (ich verwende die damaligen Namen, wie sie im Buch gebraucht werden) Burma, Indien und Malaya. Die Geschichte ist eine Geschichte über Liebe, Krieg, Migration und Familie und wird deshalb auch als der „Doktor Schiwago des fernen Osten“ auf dem Cover angepriesen. Bis auf die Königin und den König von Burma und deren Töchter sind die Figuren fiktiv. Und doch werden sie so lebendig dargestellt, dass mensch sie am liebsten auf Wikipedia suchen möchte, um mehr über sie zu erfahren. 😉

Aber es ist nicht allein die Geschichte, die erzählt wird. Nein, es sind wohl eher die Werte, die dem Buch seine Brillanz geben. Wieviele romantisierte und exotisierte Kolonialgeschichten wurden uns immer wieder aufgetischt und angepriesen? Genau das Gegenteil ist hier der Fall. Nicht nur die Frage des Militärs, wer kämpft eigentlich für wen, sondern auch die Stimme der Seite, der bisher kaum Gehör geschenkt wird, wird hier laut. Weshalb wohl wird Geschichte immer von den Sieger:innen geschrieben? Um all die Stimmen zum Schweigen zu bringen, die nicht in das vermeintlich ehrenhafte Weltbild passen. Diesen Stimmen gibt Amitav Ghosh in diesem Roman Raum. Völlig zu Recht wird er auf der Buchrückseite als einer der sympathischsten postkolonialen Autoren unserer Zeit bezeichnet.

Viel mehr bleibt mir gar nicht zu sagen. Ausser, dass ich begeistert war und das Buch verschlungen habe. Selten habe ich einen Roman gelesen, der die Werte, die mir bezüglich Geschichtsschreibung wichtig sind, so verinnerlicht hat. Endlich mal keine Kompromisse eingehen. 

Jammern auf sehr, sehr hohem Niveau: das einzige, was mich ein bisschen gestört hat, war die Genderaufteilung und welche „Biographie“ wie ausgegangen ist. Aber sonst?

Unbedingt lesen und geniessen!

Das Buch ist in der Lotte auf Englisch verfügbar.

Rezension Nr. 36

Sharon Dodua Otoo – die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle

edition assemblage – 2013 – ISBN 978-3-942885-39-3

“die dinge, die ich denke während ich höflich lächle” ist die Geschichte der langsamen Zersetzung einer Ehe, sowie der Konsequenzen für Freund*innen, Kinder und nahe Verwandte. Es ist eine Geschichte über Liebe, über Trennungen und über Beziehungen, über Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Liebenden, zwischen Freund*innen. 

Das mag jetzt banal klingen und diese Themen waren schon tausend mal Vorlagen für Liebes-Herz-Schmerz-Romane. Otoos Novelle hebt sich jedoch in mehrerer Hinsicht davon ab. 

Es gibt immer wieder Szenen, in denen die von der Ich-Erzählerin gelebte Erfahrung eine Schwarze Frau in Berlin zu sein, zum Vorschein kommt. Immer wieder drückt zusätzlich zu den Beziehungskrisen der alltägliche und strukturelle Rassismus durch, den die Ich-Erzählerin, ihre Kinder und Freund*innen in Deutschland erfahren.

Die Protagonist*innen erscheinen sehr vielschichtig, mensch kann sie nicht einfach in „gut und böse“ einordnen oder in „verlassenes Opfer“ und „verletzende Täter*innen“. So auch die Ich-Erzählerin, die von ihrem Ehemann verlassen wurde, was für sie eine äusserst schmerzhafte Erfahrung ist. Dieser Schmerz war für mich sehr spür- und nachvollziehbar. Jedoch vergisst die Ich-Erzählerin in ihrem Schmerz und ihrer Wut, auf andere Menschen, deren Gefühle und  Lebensrealitäten Rücksicht zu nehmen und tut etwas, das für ihre Mitmenschen äusserst harte Konsequenzen hat. Und das auch nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. 

Obwohl im Original auf Englisch, ist auch die deutsche Ausgabe sprachlich ganz toll! Vielleicht auch, weil die Übersetzerin und die Autorin eng miteinander befreundet sind und auch Otoo selbst an der Überarbeitung der deutschen Fassung mitbeteiligt war. Die Handlung hüpft immer wieder mal zwischen verschiedenen Orten und Zeiten hin und her, trotzdem konnte ich mühelos folgen und ich fand, dass dadurch einmal mehr die Vielschichtigkeit und Komplexität von Menschen, ihren Beziehungen untereinander und ihren jeweiligen Lebensrealitäten spürbar wurde.

Rezension Nr. 35

Ibrahim Diabate

Yen Fehi, Bako – Là-bas de l’autre côté de la rive, Canti di lotta e d’amore

Libereria, 3. Auflage 2022 (französisch und italienisch)

„Gewalt gegen afrikanische Einwander:innen“

Ein paar Worte zu diesem Buch, nicht direkt eine Rezension. Eher ein Hintergrund zu den Zeilen und der Person, die es geschrieben hat.

Nach mehrtägigen heftigen Unruhen in der süditaliensichen Kleinstadt Rosarno mussten tausende afrikanische Saisonarbeiter:innen in Sicherheit gebracht werden. Viele flohen aus Furcht vor neuen Ausschreitungen.

(…) Rund 4000 Einwander:innen aus überwiegend afrikanischen Ländern helfen in Rosarno oftmals illegal bei der Obst- und Gemüseernte. Sie wohnen in Zeltstädten und in einem alten, leerstehenden Fabrikgebäude vor der Stadt. Dort gibt es weder Matratzen, fließend Wasser, Strom oder eine Heizung – nur acht Chemietoiletten und drei Duschen stehen tausend Menschen zur Verfügung. Doch weil sich die meisten illegal im Land aufhalten, akzeptieren sie nicht nur diese unmenschlichen Lebensbedingungen, sondern auch den Hungerlohn, den sie für ihre Arbeit erhalten.

20 Euro verdient ein:e illegale:r Saisonarbeiter:in durchschnittlich pro Tag. Manchmal ist es aber auch weniger. „Mit 15 bis 20 Euro pro Tag haben wir diese Menschen zu modernen Sklaven gemacht – eine hässliche Seite im Geschichtsbuch Italiens“, sagt ein Lokalpolitiker bestürzt. Und in der Regel behalte die örtliche Mafia von diesem Hungerlohn auch noch 5 Euro „Aufenthaltssteuer“. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Ausbeutung durch organisierte Verbrecherbanden.“

So stand es geschrieben im Januar 2010, als die Lage der Ernte- Arbeiter:innen in Kalabrien völlig aus dem Ruder lief. Aus diesen Revolten ist SOS Rosarno entstanden. In ihren eigenen Worten:
„Herzlich willkommen, Leute! Das Fest, das wieder beginnt, ist das, welches in den Zitrus- und Olivenhainen der Ebene von Gioia Tauro stattfindet, wo hartnäckige Bauern und Bäuerinnen und hoffnungsvolle Migrant*innen gemeinsam eine neue Zukunft für unser Land kultivieren… ein Fest, das in unseren Regionen und in den verschiedenen Teilen Italiens gefeiert wird, wo auch in diesem Jahr die Kalafrikaner*innen umhergehen werden, um zu diskutieren und zu argumentieren, um zu erzählen, wie in Rosarno und seiner Umgebung eine neue Welt entsteht, und um diese gemeinsam zu feiern.

Eine „neue bäuerliche Zivilisation“ nannten wir dieses Projekt manchmal, und wir meinten dies einschliesslich aller Bereiche der Gesellschaft. Mit Ausnahme der dominanten (also, die wirtschaftlich, sozial, politisch … menschlich dominieren), denn ohne Herrschaft ist die neue Gesellschaft, die wir aufbauen; denn eine auf dem Boden der Erde gegründete Gesellschaft bestimmt wirtschaftlich und symbolisch die Art und Weise, in der die menschliche Tätigkeit in allen anderen Bereichen gedacht und ausgeführt wird: ob es sich um Dienstleistungen oder Technologien handelt, ob es sich um Freizeit oder um die kulturelle Aktivität selbst handelt, in der die Werte, die das Verhalten bestimmen, zum Ausdruck kommen… alles ist auf den Respekt vor der Erde und das harmonische Zusammenleben derer, die auf ihr leben, ausgerichtet.
Hier ist unser Projekt. Das ist unsere Aufgabe. Das ist unser Vorschlag.:

Alle Produzent*innen sind Kleinbäuerinnen und -bauern, Einzelpersonen oder Mitglieder von Genossenschaften. Sie stellen die bei der Ernte beschäftigten Arbeiter*innen dauerhaft ein, von denen mehr als 50% Immigrant*innen sind. Und sie sind Teil des circuito della solidarietà con gli africani di Rosarno (Solidaritätskreis mit den Afrikaner*innen von Rosarno), wegen der komplett versagenden staatlichen Einwanderungspolitik nur dank der Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Organisationen die grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen können.
Deshalb wird ein Teil des Preises aller Produkte zur Finanzierung von Projekten verwendet, die für die Rechte der Landarbeiter*innen einstehen und für alternative Projekte in Italien und im Ausland, welche die Ernährungssouveränität und Selbstbestimmung lokaler Gemeinschaften fördern.“

Und ein solches gefördertes Projekt ist zum Beispiel die „Hospitality School“- eine (Italienisch)- Schule für die Menschen, die in der Ernte arbeiten. Und das „Casa della Dignitá“- hier kommt Ibrahim, der Autor dieses Buches, ins Spiel.

Ich kann nicht sagen, wie lange er schon dabei ist, bei SOS Rosarno. Aber er ist mit grosser Energie dabei. Sein neuestes Projekt ist eben das „Casa della Dignitá“- mit gesammelten Geldern wurde ein Haus gekauft, in dem nach und nach die Wohnungen saniert und eingerichtet wurden und das nun endlich den Menschen, die in der Ernte arbeiten, als Wohnraum zur Verfügung gestellt wird. Zur Hauptsaison im Winter (Zitrussaison) sollen dort die Ernte- Arbeiter:innen leben können. Wenn sie im Anschluss weiterreisen, kann das Haus für solidarischen Tourismus genutzt werden, um es zu finanzieren und vielleicht weitere Häuser zu erkämpfen.
Dies ist das Werk von Ibrahim, der mit viel Herzblut für eine bessere Zukunft kämpft.

„Gedichte von Kampf und Liebe“ ist der Untertitel des Buches. Diese sind sowohl auf französisch, Ibrahims erster Sprache, als auch auf italienisch im Buch. Geschenkt hat Ibrahim das Buch allen Menschen aus Luzern, die bei SolRosa mit dabei sind.
SolRosa ist ein Verein, der sich in der Schweiz gegründet hat, um SOS Rosarno zu unterstützen und Bestellungen von deren Produkten zu organisieren. Mit der letzten Bestellung ist dieses Buch geliefert worden.

Und wo ist ein Buch, das vielen geschenkt wurde, besser aufgehoben als in einer Bibliothek? Deshalb steht es nun in der Lotte und freut sich darauf, ausgeliehen und gelesen zu werden. Viel Spass dabei!

Rezension Nr.34

Wu Ming

Die Armee der Schlafwandler

Roman – Assoziation A – 2020 – ISBN 978-3-86241-474-1

Das Autor*innenkollektiv Wu Ming widmet sich in diesem Roman einer alternativen Erzählweise zur französischen Revolution, die sich unter anderem der Perspektive des gemeinen Volkes und von Frauen widmet. Der Roman ist mit seinen unterschiedlichen Handlungssträngen dabei sehr vielschichtig und schafft es ein anschauliches und tiefgreifendes Bild dieser Zeit zu schaffen. Dabei verknüpft das Autor*innenkollektiv Fakten und Fiktionen zu einem spannenden Poltit-Thriller, der sich trotz des Umfangs von über 600 Seiten ohne mühsame Langatmigkeit super lesen lässt. Die Story wandert von den Pariser Vororten und den Alltagsrealitäten der dortigen Bevölkerung, über subversive Akten des Theaters und Originaldokumenten aus dem Konvent bis in die Abgründe der französische Provinz und zurück in die Absurditäten Pariser „Heilanstalten“. Der Roman spiegelt dabei die temporeichen Veränderungen jener Zeit mit ihren ständig schwellenden Verschwörungen, Totalitätsansprüchen, gegenrevolutionären Strömungen und der Diskreditierung der Revolution selbst. Ein wirklich spannender Roman der aufgrund seiner politischen Vielschichtigkeit nichts an Aktualität missen lässt, sondern auch als Spiegel zu derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen gelesen werden kann.

Rezension Nr. 33

Jan Bachmann

Mühsam – Anarchist in Anführungsstrichen

Comic – Edition Moderne – 2018 – ISBN 978 3 037 311 721

Jan Bachmann erzählt in diesem kurzweiligen Comic die Geschichte des jungen deutschen Erich Mühsam, Anarchist und Poet, mit Auszügen aus seinen Tagebüchern.

Die einzelnen Episoden sind dabei ideenreich und unterhaltsam illustriert – die lesende oder vielmehr auch betrachtende Person taucht ein in die Welt des Erich Mühsam, der von Geldsorgen geplagt ist und in den 1910er Jahren aus Gesundheitsgründen in die Schweiz ins Sanatorium muss. Ungläubig, weshalb ausgerechnet er nicht erfolgreich ist mit seiner Poesie. Dabei ist seine wahnwitzige Selbstüberschätzung kaum zu übertreffen – offensichtlich in Kombination mit der freundlichen Selbstironie für Bachmann die ideale Comicfigur, wie dieser am Ende des Buches so schön erklärt.

Während ich am Anfang dachte, dass der Zeichenstil mir etwas zu unaufgeräumt ist, da ich gerne klare Linien und noch klarere Flächen habe, bin ich doch sehr schnell eingetaucht in die farbenfrohen Bilder und die Liebe zu einigen Details. Und dann erst diese Wolken!!! So toll!

Ein wunderbares Buch um einen kleinen Einblick in die Welt des Erich Mühsam zu bekommen. Und dabei immer wieder zu schmunzeln.

Schöne Sonntagabend-auf-dem-Sofa-sitz-Lektüre.

Rezension Nr. 32

Peter Linebaugh & Marcus Rediker

Die vielköpfige Hydra – Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks

Sachbuch – Assoziation A – 2000, 2. Auflage 2022 – ISBN 978-3-935936-65-1

Dieses Werk lässt eine:n erst einmal sprachlos zurück, wenn die letzten Seiten umgeschlagen und die Danksagungen von Linebaugh und Rediker zu Ende sind.

Die beiden widmen sich auf diesen dichten, fast 400 Seiten der Geschichte der atlantischen Kolonisation und mehr noch den Widerständen dagegen. Im Mittelpunkt steht das britische Empire, von dem ausgehend die Kolonisation und der Aufstieg des frühen Kapitalismus forciert wurde. Dieses Buch behandelt in diesem zeitlichen Rahmen (frühes 17. Jh. bis zum beginnenden 19. Jh.) aber vor allem die Geschichte(n) der Enteigneten Europas, Afrikas und der Amerikas, der verschleppten, afrikanischen, versklavten Menschen, des städtischen, europäischen Proletariats, sowie der Natives in den Amerikas.

Von ihnen ging eine revoltierende Kraft gegen die überbordende Gewalt aus, die in der Standardgeschichtsschreibung nur am Rande Erwähnung findet. Dieses Werk zeigt die kooperativen Formen der Widerständigkeiten auf, bei der Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht keine bestimmende Rolle spielten.

Das Buch ist gut strukturiert, beginnend mit einem Schiffbruch im Jahre 1609, der bezeichnend war für die Kraft des Widerstands. Des Weiteren wird der historische Rahmen bestimmt. Die Begrifflichkeiten der Holzhauers und Wasserträgers werden in Kontext gesetzt, ebenso wie der politische Hintergrund der Einhegungen in Britannien.

Jedes Kapitel ist in verständliche Unterkapitel eingeteilt, die hin und wieder eine Reise rund um den Atlantik machen und sich eines bestimmten Themas von den unterschiedlichen (räumlichen) Perspektiven annähern.

Diese grossartige Recherchearbeit verdient ein riesiges Lob. Es ist unglaublich, was Linebaugh und Rediker alles zitieren, erzählen und wiedergeben. Es sind kleine und grosse Aktionen, Kämpfe und Widerstände. Es ist eine Geschichtsschreibung, die nur selten Gehör findet und doch eine grosse Kraft entwickelt, je mehr mensch in sie eintaucht. Ja, es gab immer schon Menschen, die die Herrschaftsstrukturen nicht einfach hingenommen und sich ihnen widersetzt haben.

Und nun stecke ich in einer Zwickmühle.

Inhaltlich ist das Buch grossartig. Es ist die Gegengeschichte zu Pirates of the Carribean oder Winnetou. Es sind all die gesammelten Geschichten, die es nicht in die Standardgeschichtsschreibung geschafft haben. Und die es unbedingt verdient haben, gehört zu werden.

Und trotzdem bleibt da dieser Zweifel. Was mich inhaltlich zu grossen Teilen überzeugt, ärgert mich sprachlich. Zwei Dinge, die sich durch das Buch ziehen:

Zum Einen das generische Maskulin, das selbst dann Anwendung findet, wenn es z.B. im zweiten Satzteil heisst, dass die „Wasserträger“ fast ausschliesslich Frauen waren. Aber nicht nur da. Sehr selten werden nicht nur die männlichen Bezeichnungen für Menschen verwendet.

Hier würde es mich interessieren, weshalb die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originaltextes so gewählt wurde. Im Englischen sind die Begrifflichkeiten nicht gegendert und daher offen. Weshalb wurde dies bei der Übersetzung nicht beibehalten?

In einem langen Kapitel über Pirat:innen werden Piratinnen in nur 2 Absätzen erwähnt. Alles andere waren ausschliesslich Männer?

Zum Anderen das N- Wort. Mir ist bewusst, dass es sich um eine historische Betrachtung handelt und hier oft alte Texte zitiert wurden. Es bleibt aber Menschen, die Bücher schreiben, trotzdem überlassen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und z.B. zu entscheiden, das N- Wort nicht auszuschreiben, auch wenn es ein Zitat ist. Noch viel schlimmer, und dies ist leider sehr häufig der Fall in diesem Buch, ist es, wenn das N- Wort und andere Wörter, die keine Anwendung mehr finden sollten, in Anführungszeichen gebraucht werden, auch wenn es keine Zitate sind. Auch vor 22 Jahren, als das Buch veröffentlicht wurde, war es schon Konsens, das N- Wort nicht mehr zu verwenden. Wie kommen zwei (von mir als weiss gelesene)US- amerikanische Personen auf die Idee, es in Anführungszeichen weiter zu benutzen? Vor allem, wenn sie selbst Texte aus den 1760ern Jahren zitieren, in denen schon das Wort „Schwarze“ verwendet wurde. Also gab es schon vor mehreren Hundert Jahren Menschen, die sich der Relevanz von Sprache und Bezeichnungen bewusst waren. Es gibt also meiner Ansicht nach keine Argumentation dafür, weiterhin eine Sprache zu verwenden, die diskriminierend und menschenfeindlich ist.

Ein weiterer Punkt, der mir schwer aufgestossen ist, ist die Bezeichnung der Haitianischen Revolution als „Arbeiterrevolution“. Linebaugh und Rediker zeigen immer wieder auf, dass in der Vergangenheit Geschichte unsichtbar gemacht wurde. Auch wenn sie später die Revolution als Kraft von Black Power darstellen, tappen sie mit der Bezeichnung der Haitianischen Revolution als „Arbeiterrevolution“ genau in dieselbe Falle. War Haiti nicht in erster Linie ein Befreiungskampf von (Schwarzen) versklavten Menschen? Diese Fremdbezeichnung ist in meinen Augen nicht nachvollziehbar und ärgert mich.

Und nun?
Meiner Ansicht nach ist mit diesem Buch ein grossartiges Fundament gelegt worden. Etwas pathetisch formuliert ist es vielleicht ein ungeschliffener Diamant, der noch ein bisschen der Arbeit bedarf, bis die wahre Grösse zum Vorschein kommt. Es ist vieles vorhanden, was dieses Werk zu einem ausserordentlichen Geschenk macht, aber eben auch zu einem ausserordentlichen Ärgernis. Dies liesse sich mit einer Überarbeitung ändern. Für die 2. Auflage 2022 wäre genau dies möglich gewesen, leider wurde die Chance nicht ergriffen. Ich würde mir wünschen, dass das Buch sprachlich angepasst wird und somit eine Wertschätzung gegenüber den Nachfahr:innen all der Menschen, die in diesem Buch Erwähnung finden, darstellt.

Herzlichen Dank an Assoziation A für das Rezensionsexemplar. Ihr macht tolle und wichtige Arbeit, danke auch dafür!

Rezension Nr. 31

Sabine Bade / Wolfram Mikuteit

Partisanenpfade im Piemont

Sachbuch -Querwege – 2012 – ISBN 978-3-941585-05-8

Wandern, Reisen und Geschichte(n) (vor)lesen. Eine wunderbare Kombination. Schon lange wollte ich dieses Buch packen und mich damit im Piemont auf den Weg machen. Geschichten lesen, Geschichte lernen, mich dazu bewegen und vor Ort sein, an Orten sein, wo widerständige Geschichte gemacht wurde.
Partisanenpfade im Piemont ist ein Buch, das einführt in die Welt der piemontesischen Alpentäler. Und die Resistenza. So haben wir uns zBsp. auf den Weg gemacht ein Spital der Partisan:innen, das jetzt eine Ruine ist, auf knapp 2400 Höhenmetern zu besuchen. Oder ein Ausguck der Partisan:innen, von dem aus sie die beiden umliegenden Täler stets im Blick hatten. Heute ein Rifugio.
Die Wanderungen, die wir gemacht haben, sind gut im Buch beschrieben und dazu vor Ort sehr gut ausgeschildert. Zwischendurch gibt es immer wieder Geschichten und allgemeine Erklärungen, zBsp. zu Kesselrings „Bandenbekämpfung“, was X-Mas bedeutet, wie der bewaffnete Widerstand aufgebaut war und vieles mehr. Sehr spannend!
Allgemein sind die Touren jedoch über einen sehr grossen Bereich der piemontesischen Alpen verteilt, dass mensch wirklich viel Zeit und gute Wetterbedingungen braucht, um eine grosse Anzahl der Touren machen zu können. Mit beidem waren wir nicht so gesegnet. Aber auch so hat es sich gelohnt, auf die Spuren der italienischen Resistenza zu gehen und eine traumhafte Gegend kennenzulernen, in die es uns sonst wahrscheinlich nicht verschlagen hätte.
Wer also ein bisschen Zeit hat: Wanderschuhe einpacken und in den Süden aufmachen!
Und wer nur ein bisschen träumen will, auch das geht gut. Es ist auch einfach ein gutes Geschichtsbuch!

Rezension Nr. 30

Tommy Orange

Dort, dort

Roman – Hanser Verlag – 2019 – ISBN 978-3-446-26413-7

Tommy Orange erzählt in diesem schnelllebigen und spannenden Roman in einprägsamen Bildern über die gesellschaftlichen Bedingungen und Zustände der Native American-Community, der die*der Autor*in sich selbst als zugehörig beschreibt. Anhand von zwölf Protagonist*innen verdeutlicht Tommy Orange die biographische Herausforderungen von Native Americans über drei Generationen die geprägt sind von Ausschluss, Diskriminierung und Unterdrückung in einer weissen Mehrheitsgesellschaft. Die Protagonist*innen sind über diverse und z.T. absurde Handlungsstränge miteinander verbunden, die die*der Autor*in über den Roman immer mehr verknüpft und zu einem tragischen wie fulminanten Höhepunkt des Buches führt.

Dabei schafft es die*der Autor*in die Protagonist*innen trotz des realen Scheiterns als selbstbewusst und stark darzustellen. Dies ist der grösste Gewinn des Buches und trägt zum Empowerment der Native Americans bei, deren Stimme immer noch kaum gehört wird und im literarischen Bereich nahezu unsichtbar bleibt.

Der Roman ist dabei leicht und gut verständlich zu lesen und ist durch seine Kurzatmigkeit und Spannung auch für Jugendliche geeignet.

Rezension Nr. 29

Diane Obomsawin

Ich begehre Frauen

deutschsprachige Ausgabe – Edition Moderne – 2020 – ISBN 978-3-03731-203-2

Der Beschrieb auf der Rückseite des Buches sagt schon fast alles: „Zehn lesbische Frauen erzählen in kurze Episoden über ihr Begehren, ihr Comic-out, das Verliebtsein oder die ersten sexuellen Erfahrungen.“

Diane Obomsawin erzählt diese zehn Geschichten in Comicform. Die Protagonist:innen mit menschlichen Körpern und tierhaften Köpfen waren mir auf Anhieb sympathisch. An manchen Stellen sind die Geschichten lustig, manchmal traurig und meist etwas sprunghaft ohne jedoch unverständlich zu sein. So kamen auch die Enden der Episoden für mich oft unerwartet und abrupt daher, was jedoch dem Charme des Comic keinen Abbruch tat, sondern für mich eher noch verstärkte.

Dazu kommt auch noch der optische Pluspunkt des Hardcover Einbandes mit irisierendem Papier, der das Buch auch von aussen absolut begehrenswert macht!

Ich begehre Frauen ist sehr zu empfehlen. Gute Unterhaltung, ohne seicht zu sein.

Rezension Nr. 28

Roman Schürmann

HELVETISCHE JÄGER Dramen und Skandale am Militärhimmel

Rotpunktverlag – 2009 – ISBN 978-3-85869-406-5

Amüsante Lektüre, die Technikgeschichte mit Politik vereint.

Besonders erheitert hat mich, dass das Thema „Schweiz und Kampfflugzeuge“ seit dem Beginn vor über hundert Jahren ein Garant für irgendwelche Mauscheleien und daraus entstehende Skandale zu sein scheint. Angefangen mit der Spendensammlung in der Bevölkerung für die ersten militärischen Fluggeräte über das im zweiten Weltkrieg vom Bundesrat verordnete Flugverbot, weil er es sich mit den Nazis nicht verderben wollte und den Plänen, unbedingt einen schweizerischen Düsenjäger und eine schweizerische Atombombe zu bauen und bis zu den Finanzdebakeln aller Flugzeugbeschaffungen der Armee. Der Plot scheint immer derselbe: Das Militär hat irgendwelche Wunschträume an der Grenze zu Allmachtsfantasien und versucht diese in „Notwendigkeiten“ zu verpacken, um sich den Spass von der Politik und der Bevölkerung finanzieren zu lassen. Auch wenn sich das wie „stets alter Wein in neuen Schläuchen“ liest, berichtet das Buch sehr kurzweilig über die politischen Umstände und technischen Entwicklungen der jeweiligen Zeit und sorgt so für ein umfassendes Verständnis des Geschehens.

Die ersten zwei Kapitel behandeln die Entstehung der Fliegerei im Allgemeinen und wie sie von Militärs für sich entdeckt wurde. Also eher ein technikgeschichtlicher als ein politischer Einstieg, der dem Gang aufs politische Parkett aber den Weg bereitet. Darauf folgt eine Zeitreise durch das vergangene Jahrhundert schweizerischer Militärluftfahrt, die viel über das Land, seine Politik und seine Gesellschaft erzählt. Trotz des militärischen Themas und der damit verbundenen Begriffe verfällt das Buch nicht in einen Militärjargon und bleibt sich seiner kritischen Haltung bis zum Ende treu.

Das Buch ist von 2009, das Thema ist 2022 mit der geplanten Beschaffung neuer Kampfjets für die Schweizer Armee trotzdem topaktuell. Zur Überbrückung der Geschichtslücke von 2009 bis heute finden sich unten die Links zur Artikelserie „Die Kampfjet-Saga“ im Republik Magazin. Die Recherche beleuchtet den Prozess des geplanten Kaufs der F-35 Kampfjets und die Widersprüche und Ungereimtheiten des neuesten Wunschspielzeugs der Schweizer Militärs. Die Serie schreibt damit quasi ein weiteres Kapitel des Buches und zeigt, dass sich die aktuellen Entwicklungen in Sachen „Schweiz und Kampfflugzeuge“ nahtlos an die Flugzeug-Skandale der letzten hundert Jahre anschliessen.

Die Kampfjet-Saga – Von Priscilla Imboden und Alexander Glandien, erschienen im Republik Magazin.

Teil 1

Der geplatzte Deal mit Paris: https://www.republik.ch/2022/01/12/die-kampfjet-saga-folge-1-der-geplatzte-deal-mit-paris

Teil 2

Eine Wahl mit Turbulenzen: https://www.republik.ch/2022/01/13/die-kampfjet-saga-teil-2-eine-wahl-mit-turbulenzen

Teil 3

Getarnte Kosten: https://www.republik.ch/2022/01/14/die-kampfjet-saga-teil-3-getarnte-kosten

Rezension Nr. 27 – DIE JUBILÄUMSAUSGABE: 1 Jahr Lotte- Rezensionen!

Heute haben wir die 27. Rezension für euch.
1 Jahr mit spannenden Büchern und Rezensionen liegen hinter uns. Wir hoffen, wir konnten euch Lust auf das ein oder andere Buch machen.

Für die Jubiläumsausgabe gibt es heute eine ausführlichere Rezension, viel Spass beim Lesen!


Nick Montgomery and carla bergman 
Joyful Militancy. Building Thriving Resistance in Toxic Times

AK Press – 2017 – 9-781849-352888  

Weshalb scheinen oder sind radikale Bewegungen und Orte manchmal so voller Angst, Scham, Furcht, Selbstgerechtigkeit und Konkurrenzkampf?
Wie ist radikales Handeln möglich, ohne in diese Muster zu verfallen? Diese Fragen stellen sich und vielen anderen Montgomery und bergman. Sie nennen das Phänomen „rigid radicalism“ – vielleicht „starrer Radikalismus“. Erstarrte und toxisches Wege wie Menschen sich zu verhalten haben und Verhaltensnormen, die in soziale Bewegungen Einzug gehalten haben – wie der „korrekte“ Weg des Radikalseins aussieht. In Gesprächen mit Aktivist*innen und Intellektuellen aus vielen verschiedenen politischen Bewegungen (vor allem aus den Amerikas) versuchen die Autor*innen herauszufinden, wie sich der „rigid radicalism“ in die Bewegungen schleicht und wie Menschen ihn wieder loswerden können. 

So viel zum Klappentext. 
Interviewpartner*innen sind Silvia Federici, adrienne maree brown, Marina Sitrin, Gustavo Esteva, Leanne Betasamosake Simpson, Walidah Imarisha, Margaret Kolljoy, Glen Coulthard, Richard Day und weitere.  Es ist wichtig, sie zu nennen.

Damit wird schon sichtbar, aus welchen Bereichen Wissen in dieses Buch fliesst. Und so stellt sich gleich die erste Frage:
Wie ist damit umzugehen, dass Wissen, das in grossen Teilen in Schwarzen, PoC und Native Gemeinschaften und Kollektiven erarbeitet wurde, von zwei weissen Autor*innen unter ihrem Namen in einem Buch veröffentlich wird? Hätte es andere Möglichkeiten gegeben, als dass sie mit ihrem Namen dieses Wissen teilen und damit privatisieren? Die Autor*innen nennen alle ihre Gesprächspartner*innen beim Namen und arbeiten sehr transparent. Und doch ist es schwierig, wie diese Sammlung und Aneignung einzuordnen ist. Wäre es eine Möglichkeit gewesen, alle Namen auf dem Cover zu nennen, so wie es bei anderen Sammelbänden der Fall ist? Und damit zu verdeutlichen, woher die Inhalte stammen, die sich im Buch finden? Wie sonst wäre ein sensibler Umgang mit Wissen aus Schwarzen, PoC und Native Communities möglich? 

Zu den Inhalten
Das Buch ist aufgeteilt in ein langes Vorwort von Hari Alluri, zwei weitere Einführungen der Autor*innen, 5 Kapitel, einem Outro und 3 Zusätzen, von denen zwei ausführliche Interviews sind.Die Kapitel sind nach Inhalten sortiert: 

1. als Grundlage „Empire, Militanz und Joy“
2. „Freund*innenschaft, Freiheit, Ethik und Verbindung (Affinity)“
3. „Vertrauen und Verantwortung als gemeinsame Grundgedanken (common notions)“
4. „Stickige Luft, Burnout, Politische Performance“
5. „Rigid Radicalism abbauen, Joy aktivieren“ 

Der Aufbau ist gut gelungen, zunächst wird der Boden geschaffen. Die zugrundeliegende Definition von „Joy“ wird sehr gut erklärt. Joy ist demnach nicht einfach mit „Freude“ oder „Spass“ zu übersetzen. Joy setzt nach Spinoza viel tiefer an. Es entsteht durch die Ent-deckung der eigenen Kapazitäten und ist als Prozess der transformativ, gefährlich, schmerzhaft und mächtig aber auch leicht vergänglich ist zu verstehen. Durch Joy werden Menschen empowert und lebendiger, ihre eigenen Kapazitäten werden gestärkt. Joy zu leben funktioniert jedoch nicht als abgetrenntes Individuum sondern nur indem Menschen sich in enge Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt begeben, Gefühle und gemeinsame Kraft nähren. Während „Freude“ oder „Spass“ als Anästhetikum fungieren, vermag Joy das Gegenteil zu bewirken. Joy kann entstehen, wenn sich eine Gruppe von Menschen gemeinsam Dinge aneignet und jede Person spürt wie ihre Kapazitäten und die ihrer Mitmenschen wachsen. Es wächst, wenn wir uns mit Situationen auseinandersetzen und unser Handeln damit übereinstimmt was in diesem Moment nötig und sinnvoll ist. Joy lebt aus situativen Entscheidungen und Handlungen und wird verhindert sobald es starre Vorgaben gibt, was „richtig“ und was „falsch“ ist.   

Auf dieser Grundlage baut das Buch auf. Und in Verbindung mit Militanz? Militanz wird als Wille zum Kämpfen verstanden. Dies schliesst persönliche innere Kämpfe und Auseinandersetzungen innerhalb der Community ebenso ein wie der Kampf gegen Unterdrückung und das Empire. 
Joyful Militancy soll Kämpfe UND Care beleben, Streitlust UND Zärtlichkeit. Die Dichotomien, die uns „Empire“ gelehrt hat, dass die Welt im Schwarz-Weiss Modus zu betrachten ist, sollen verlernt werden. Graustufen sollen zugelassen und erlernt werden. „Negative“ und „positive“ Erfahrungen und Gefühle können und dürfen nebeneinander Platz haben.Dabei ist es wichtig, dass das Konzept von Militanz als „empowernd“ und belebend kämpferisch verstanden wird. Es sollen keine Selbstaufgabe oder Handlungen stattfinden, die gegen die eigenen Bedürfnisse, Potentiale und Wünsche gehen.
Es ist kein ideologisches Einmaleins oder eine Idee von einer erleuchteten Vorhut (weisser) Männer, die im Gegensatz zu allen anderen Menschen klar sehen. Es kommt aus jedem einzelnen Kampf von Menschen, die sich „Empire“ nicht beugen wollen. Menschen die kämpfen und widerständig sind und dabei in engem Kontakt mit ihren eigenen Fähigkeiten stehen. So zum Beispiel Indigene, die sich konstant weigern, ihre Lebensweise „Empire“ anzupassen.  

„Empire ist der Name für die organisierte Kathastrophe, in der wir heute leben.“ Empire wird im Buch das genannt, was gemeinhin als Staat, Machtstrukturen oder System bezeichnet wird. Dieses Empire durchdringt jedoch unser gesamtes Leben, so auch die Beziehungsformen von Menschen untereinander. Empire eignet sich unsere Beziehungen an und definiert sie nach kapitalistisch- patriarchalen- rassistischen Strukturen um. Unsere Aufgabe ist es, sie sich wieder anzueignen und selbst zu definieren. 

Durch das neue Definieren und Leben solcher Beziehungen im Hier und Jetzt wird ein Gegenstandpunkt zu Empire erschaffen. Es wird die Revolution in der fernen Zukunft nicht geben. Die Revolution findet in diesen veränderten Handlungen, Formen von Beziehungen und Bezugnahme im Hier und Jetzt statt.
Auf welche Weise können Beziehungen gestärkt werden? Wenn eine Starrheit Einzug gehalten hat, wie kann dies verändert werden? Wie ist es möglich mit Unsicherheiten umzugehen? Wie kann „joyful“ experimentiert werden?  

Anhand vieler Beispiele und Zitate widmen sich die Autor*innen diesen und vielen weiteren Fragen. Das Buch lädt sehr oft zum Nachdenken ein. Zum Abgleich mit eigenen Erfahrungen. Erlebe ich die radikalen Räume, in denen ich mich bewege, auch als starr oder sind sie empowernd? Erlebe ich sie als safer spaces für mich, sind sie aber das Gegenteil für andere? Wie einladend und offen sind sie? Wem vertrauen wir? Weshalb? 

Weitere Inhalte sind (weisse) Anspruchshaltung, Privilegien, response- ability- die Fähigkeit wirklich auf eine andere Person zu re- agieren, Care für sich selbst und andere auch in Zeiten von Schmerz, Gewalt und Verletzungen, call out culture- wie mit Kritik umgehen, Vertrauen und viele mehr.  

Das Buch ist keine Anleitung, wie Orte und Beziehungen joyful gemacht werden können. Es ist nicht abgeschlossen und hat auch nicht den Anspruch darauf. Es ist eher eine Werkzeugkiste gepaart mit einem Geschichtenbuch der Erfahrungen. Es gibt den Lesenden Werkzeuge an die Hand, wie bestimmte Muster erkannt werden können, was in bestimmten Situationen Abhilfe geschaffen hat und wie Dinge, Situationen und Beziehungen auch (anders) betrachtet werden können.„I’ve made it a principle not to induldge in speech that is destructive. The notion of stressing potential rather then limits.“

Und immer wieder betonen die Autor*innen wie wichtig es ist, „joyful militancy“ nicht zu einem starren Konzept zu machen oder das Buch als Anleitung „how to …“ zu sehen. Das hätte genau den gegenteiligen Effekt und „militancy“ stünde ganz bald wieder ohne „joyful“ da. Was joyful ist ist fluide. Und so sind es auch Beziehungen. Das macht ein regelmässiges „call in“ nötig. Ein regelmässiges hinhorchen, fühlen. Ist es OK so wie es jetzt ist? Wünsche ich mir etwas anders? Das ist anstrengend. Aber auch sehr befreiend! 

„Joyful militancy“ ist absolut lesenswert, empowernd und dazu geeignet, immer wieder gelesen zu werden. Nur wenn bestimmte Handlungsmuster durchbrochen werden, können wir unsere Beziehungen und unser Sein joyful gestalten. In diesem Sinne ein absolutes „must read“! 

Das Buch ist nur auf Englisch verfügbar.

Rezension Nr. 26

Mariana Ellery
Welche Farbe hat die Liebe?
Illustriert von Clara Reschke

Alibri Verlag – 2021 – ISBN 978-3-86569-334-1
ab 3 Jahre

Anna hat eine Familie: diese besteht aus Eli, Lia, Ed und Betty – vier Menschen zu denen sich Anna eng verbunden fühlt, die sie liebt und mit denen sie gemeinsam durch die Welt geht. Im Buch «Welche Farbe hat die Liebe?» begleiten wir Anna und ihre Familie ein Stück in ihrer nicht-monogamen Beziehungswelt.

Polyamorie ist ein bisher wenig beachtetes Thema in Kinderbüchern obwohl Regenbogenfamilien an und für sich schon länger auf der Agenda diversitätssensibler Kinderbuchverlage stehen.Umso erfreulicher ist es dass in dem Kinderbuch «Welche Farbe hat die Liebe?» das Thema Polyamorie so leichtfüssig und unkompliziert daher kommt. Da ist Anna, ein Kind, dass sich auf den bunten, zuckerfarbenen Seiten des Buches puddelwohl fühlt und eine familiäre Geborgenheit erleben darf in der Anna ganz Kind sein kann.

Dabei wird im Buch thematisiert wie dieses positive Familiengefühl auch beibehalten und erweitert werden kann, als im Verlauf des Buches zwei weitere Menschen zur Familie dazukommen. Dabei schafft es die* Autor*in sehr sensibel darzustellen wie diese Veränderung durchaus Verunsicherung auslöst – was so kindlich und menschlich nachvollziehbar ist und in dem Buch ganz selbstverständlich und nicht problematisiert aufgegriffen wird.

Der inhaltlichen Bearbeitung sehr zugute zu halten ist, dass in dem Buch nicht im Vordergrund steht wer-jetzt-genau-wie-mit-wem-zusammen ist, sondern ein polyamoröses Beziehungsgefüge aus der Perspektive von Anna dargestellt wird und damit die Erlebensweise des Kindes der Fokus des Buches ist. Auf diese Weise schafft es das Buch das Thema Polyamorie als selbstverständlich zu verhandeln, in dem Anna sich fragt, was den eigentlich Liebe ist und wie wir diese begreifen können. Dabei wird im Buch keine überzeichnete Antwort gegeben, sondern ganz kindgerecht eine Ausdrucksform gefunden die Liebe über das Farbspektrum verständlich macht und somit einen für Kinder nachvollziehbaren erleb- und fühlbaren Zugang schafft.

Sehr schön und berührend ist wie im Buch Vertrauen und Verlustängste von Anna thematisiert und aufgegriffen und dadurch zugänglich gemacht werden. Dabei wird deutlich, dass etwaige Ängste nicht nur auf polyamoröse Beziehungen bezogen bleiben, sondern als kindliche Grundthemen ernst genommen werden.

Mit dem Kinderbuch ist es der* Autor*in Mariana Ellery ein Anliegen einen Zugang zur Vielfalt von Liebe und Beziehungen zu geben um ein mehr an Freiheit zu ermöglichen. Das Buch «Welche Farbe hat die Liebe?» entstand dabei vor dem Hintergrund ihrer* eigenen Erfahrungen mit nicht-monogamen Lebensweisen. Die Texte sind in poetischen, leicht verständlichen Versen verfasst und begleiten Anna beschwingt durch die farbenfrohe Bilderwelt.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass das Buch einen sehr schönen kindgerechten Zugang zum Thema Poly-Beziehungen schafft indem vor allem die Gefühls- und Erlebenswelt von Anna als Kind im Mittelpunkt stehen. Somit wird ein Zugang zu dem Thema Polyamorie geschaffen, der weder versucht zu pädagogisieren noch zu fest in der Erwachsenenperspektive verharrt. Und dies ist der grosse Gewinn die dem Buch «Welche Farbe hat die Liebe?» gelingt.

Rezension Nr. 25

Tupoka Ogette
exit RACISM – rassimuskritisch denken lernen 

Unrast – 2017                 

Dieses Buch ist allen weissen Menschen sehr zu empfehlen. Auch jenen die beim Lesen des Buchtitels denken: “Rassimus gibt es nur bei der SVP und anderen rechten Parteien, was geht das mich an?!”.
Tupoka Ogette, sie bezeichnet sich selbst als Schwarze Deutsche, richtet in dem Buch den Blick vor allem auf Deutschland. Allerdings trifft vieles davon auch für die Schweiz zu. Die Autorin beschreibt die Entstehungsgeschichte des Rassimus und erklärt die fast unsichtbaren rassistischen Strukturen, mit denen wir aufwachsen und die unser Denken und Handeln bestimmen. Immer wieder ist es erschreckend zu realisieren, wie die gesamte Gesellschaft von strukturellem Rassismus durchzogen ist, sei es das Schulsystem oder der Wohn- oder Arbeitsmarkt. Und nicht nur das, auch alltägliche Blicke, die Frage nach der Herkunft oder “gutgemeinte” Komplimente die Schwarze Menschen und People of Color täglich erfahren, entlarvt die Autorin als rassistisch ansozialisiertes Verhalten. Sie zeigt auf, wie die Gesellschaft eine weisse Norm kreiert, so dass Weisssein zu etwas “normalem” und die damit einhergehenden Privilegien nahezu unsichtbar werden.  

Das Buch richtet sich primär an weisse Menschen. Es ist workshop-artig aufgebaut. Es gibt in den einzelnen Kapiteln jeweils einen Input-Teil, mit Informationen und Erklärungen zum jeweiligen Thema. Danach kommt ein Interaktiver Teil, mit Links zu Videos zum Thema oder mit Fragen die sich die Lesenden stellen sollen. Und dann gibt es jeweils noch das Logbuch. Darin kommen Menschen die bei der Autorin ein Seminar zum Thema Rassismus besucht haben zu Wort. Die Aufzeichnungen sind sehr persönlich und oft emotional. Sie zeigen gut, was sich bei weissen Menschen abspielen kann, wenn sie sich wirklich mit Rassismus auseinander setzten.  

Es wird sich wohl (fast) jede weisse Person beim Lesen früher oder später in einer der beschriebenen rassistischen Perspektiven wiedererkennen. Ich fühlte mich diesbezüglich jedoch gut aufgehoben, einerseits durch die oben erwähnten Logbücher und auch durch die Autorin, die immer wieder betont, dass es nicht darum geht Menschen zu verurteilen, sondern Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, andern zuzuhören und Fehler einzugestehen. Oder mit den Worten Tupoka Ogettes: „Wir alle können nichts für die Welt, in die wir hineingeboren wurden. Aber jede und jeder kann Verantwortung übernehmen und diese Welt mitgestalten.“ 

Etwas schade ist, das die Links im Buch nur mit QR Code angegeben werden. Im Exemplar in der Lotte stehen nun zusätzlich die Links ausgeschrieben, um diese auch Menschen ohne Smartphone zugänglich zu machen. Oder du kannst die Direktlinks bei uns per Mail anfordern: hallo@lotte-bibliothek.org 

Rezension Nr. 24

Nanni Balestrini
Der Verleger

Verlag Libertäre Assoziation – 1992 – 3 922611 23 0

Die Originalausgabe dieses Romans von Nanni Balestrini erschien 1989 unter dem Titel „L‘editore“, er verarbeitet darin die Geschichte um den Tod von Giangiacomo Feltrinelli. Feltrinelli, Gründer des gleichnamigen Verlages, wurde im März 1972 tot aufgefunden, unter einem Strommast auf einem Feld bei Segrate, am Stadtrand von Mailand. Er starb durch die Explosion einer Bombe, angebracht an eben diesem Strommast. Die genauen Umstände seines Todes wurden nie aufgeklärt.

Und so rankt sich der Roman von Balestrini um Tatsachen und Fiktion, um Medienberichte und erfundene Genoss*innen des Verlegers, wie er Feltrinelli durch die ganze Geschichte hindurch nennt, die jedoch tatsächlich so existiert haben könnten.
Es geht jedoch nicht nur um dem mysteriösen Tod dieses reichen Verlegers, der sich zunehmend linksradikalen Ideen zuwendet. Vielmehr gibt das Buch einen Einblick in die 70er Jahre in Italien und vermittelt ein Gefühl der damaligen Zeit. Eine Zeit in der das politische Klima in Italien extrem aufgeheizt war, in der Hunderte militante Aktivist*innen im Gefängnis sassen und in der von Seiten der Linken wie auch der Rechten Bombenanschläge verübt wurden.

„Der Verleger“ ist wie alle Romane von Nanni Balestrini ohne Satzzeichen geschrieben (ausgenommen einiger weniger Fragezeichen). Am Anfang ein bisschen gewöhnungsbedürftig, zog mich dieser Schreibstil nach einer Weile völlig in den Bann und gab der Geschichte einen (wie ich finde) passenden Stil, irgendwo zwischen atemlos vorwärtstreiben und unerwarteten Pausen. 

Rezension Nr. 23

Ronen Steinke
Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage.

berlin Verlag. 2020 (2. Auflage) – ISBN 978-3-8270-1425-2

Der Titel des von Ronen Steinke verfassten Buches gibt ziemlich genau zusammengefasst wider womit sich die*der Autor*in im Buch befasst. Die Allgegenwärtigkeit von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft, sowie die Ignoranz dessen durch Politik und Justiz. Und vor allem Eines: Jüdisches Leben ist nicht möglich ohne das Gefühl permanenter Bedrohung.
Die*der Autor*in verdeutlicht dies anhand der Lebensrealität jüdischer Menschen und jüdischem Lebens, das geprägt ist von Einschränkungen, Bedrohung, Rückzug und Resignation. Dabei stellt die*der Autor*in dem allzu geläufigen Bild des Opfers, dass Bild von jüdischen Menschen entgegen, die sich mit diesen Gegebenheiten nicht abfinden wollen, sondern diese immer wieder hinterfragen.
Dabei wird im Buch sehr deutlich warum sich jüdische Menschen nicht auf die Unterstützung von Staat und Polizei verlassen wollen und können. Die*der Autor*in verdeutlicht die Rolle von Sicherheitsbehörden und Justiz und zeigt deutlich deren Versagen, wohl wissende Untätigkeit und fahrlässige oder besser bewusst «unterlassene Hilfeleistung».

Zum Teil liest sich das Buch ein wenig polemisch, was ich beim Lesen zumindest beim Thema muslimischer Antisemitismus ein wenig schwierig fand. Nicht das die*der Autor*in dies bedient und muslimischer Antisemitismus als Realität auch benannt sein soll, aber im Kontext von aktuellen antimuslimischen Debatten ist dies eben ein schwieriger Grad. Die*der Autor*in stellt dementsprechend heraus dass es für rassifizierte und marginalisierte Gruppen keinen Normalitätszustand in einer deutschen Mehrheitsgesellschaft geben kann, da dieser vom Staat scheint es auch nicht gewollt ist. Dies lässt sich 1:1 auf die Schweiz übertragen.

Zusammenfassend wird im Buch vor allem Eines deutlich: Terror und Gewalt gegen Juden ist eine Kontinuität. Es gab keinen Zeitpunkt nach 1945 in dem jüdisches Leben in einer Selbstverständlichkeit möglich gewesen wäre wie ein Leben für die Mehrheitsgesellschaft möglich ist. Ronen Steinke schafft dies am eindrücklichsten vor Augen zu führen durch eine 89seitige Chronik, die akribisch Angriffe und Gewalttaten gegen jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen von 1945 bis 2020 auflistet.Beim Lesen der Chronik wird das Ausmass der Bedrohung von jüdischem Leben, die die*der Autor*in vorab im Buch herausarbeitet nochmal greifbar und erschreckend deutlich und zeigt somit die gesellschaftlichen Zustände klar und deutlich auf.

Rezension Nr. 22

Angie Thomas
Concrete Rose

Balzer+Bray – 2021 – 978-0-06-305653-4

Das Buch ist dieses Jahr erschienen und gibt es sogar auf deutsch. In der Lotte haben wir die us- amerikanische Originalausgabe. Trotz englischer Sprache im Buch schreibe ich die Rezension auf deutsch.

Concrete Rose- nicht dass ich eine Ahnung hatte, worauf sich der Titel bezieht. OK, wenn ich nur ein bisschen darüber nachgedacht hätte, wäre ich vielleicht selbst drauf gekommen. Aber schon bei der Widmung zu Beginn des Buches wird dieses Geheimnis gelüftet: 

For all the roses growing in concrete. Keep blossoming. (Für all die Rosen, die in Beton wachsen. Erblüht weiter.)

Angie Thomas erzählt die Geschichte des 17- jährigen Maverick, oder Mav, der nicht die einfachsten Bedingungen in seinem Umfeld erlebt, um die Schule abzuschliessen und sein Leben im Griff zu behalten. Eine Schwarze Community, sein Umfeld von Gangs und Gangfights bestimmt, seine Mutter, die zwei Jobs hat um zu überleben, sein Vater, der Gangleader war, seit fast 10 Jahren im Gefängnis, er selbst verkauft Drogen um über die Runden zu kommen und seiner Freundin schöne Geschenke zu machen.
So weit so gut.
Bis er heraus findet, dass er Vater ist. 

Mitreissend erzählt Angie Thomas die Geschichte von Mav, der sich trotz regelmässigen Rückschlägen tapfer schlägt und aus seiner und der Geschichte seiner Familie lernt. Dies klingt nun alles recht platt und klischiert. 
Ich bin jedoch sprachlos wie gut Thomas es schafft, genau diese Klischees zu brechen und Charaktere zu zeichnen, die jenseits von „böser Drogendealer“/ „Opfer der Gesellschaft“/ „Schwarzer jugendlicher Looser“ etc sind.
Es ist vielmehr ein Eintauchen in die Welt eines heranwachsenden Jungen, dem die Welt nicht zu Füssen liegt und der seinen Weg trotzdem sucht und findet. 

Sprachlich ist es insofern eine Herausforderung, dass vieles im Slang geschrieben ist und ich mich erst daran gewöhnen musste. Aber nach einem holprigen Start hat mich die Geschichte nicht mehr losgelassen. Auch wenn ich gerade nicht am lesen war, kam mir immer wieder Mav in den Sinn und wie seine Geschichte wohl weitergeht. Also ja, ich hab das Buch verschlungen. Und kann es nur weiterempfehlen.

Rezension Nr. 21

Patricia Purtschert
Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert, Eine Geschichte der weissen Schweiz

transcript – 2019 – ISBN 978-3-8376-4410-4

Wie lässt sich über dieses Werk eine Rezension schreiben? Traue ich es mir zu, eine Meinung über ein so dichtes Buch zu schreiben, das die Habilitation von Patricia Purtschert darstellt und dem P. viele Jahre des eigenen Lebens gewidmet hat?
Ich versuche es und schicke voraus, dass ich mich bisher zwar mit Kolonialgeschichte und den Bezügen der Schweiz dazu, jedoch nicht mit postkolonialen Theorien beschäftigt habe.

Und so war der Einstieg, die über 50- seitige Einleitung, schon eine Herausforderung, da es immer wieder Bezüge auf andere Bücher und spannende Themen gab. Nein, nicht abschweifen, beim Thema bleiben und verstehen, wie Purtschert die Argumentationskette aufbaut. P. beginnt mit Erläuterungen von Kolonialität und Moderne, von Europas Rassismus, der als „rassenlos“ benannt wird, weil spätestens seit dem Faschismus der Begriff „Rasse“ nicht mehr verwendet wird, von Geschlecht, Sexualität und Othering, von kulturellen Dimensionen des Rassismus und schliesslich von Schweizer Alltagsrassismus und der kolonialen Unschuld.
Die Weichen werden gestellt auf die beiden Schwerpunkte, die später folgen: die Erfindung der Schweizer Hausfrau durch das Othering sowie das Bild des Schweizer Bergführers/ Bergsteigers als Schweizer Helden in kolonialen Abenteuern. Es gelingt P. dabei gut, auch mir, die ich keine Vorkenntnisse habe, die Sachverhalte schlüssig zu erklären. Es handelt sich um ein akademisches Werk in akademischer Sprache, die aber gut verständlich wurde, sobald mensch sich ein bisschen „eingelesen“ hatte. Und doch muss ich sagen, dass die Argumentationsketten, die im Moment des Lesens gut verständlich waren, vom Verständnis her an der Oberfläche blieben.
Es fällt mir schwer die Inhalte anderen Menschen weiterzugeben.
Dabei stellt sich mir die Frage, ob es eher ein Buch für „Fortgeschrittene“ ist? Für Menschen, die sich den Diskursen um Postkolonialismus schon gewidmet haben und denen es dadurch nicht so dicht erscheint wie mir? Oder hätte ich tiefer eintauchen müssen in die Materie?Ich habe jetzt ein anderes Buch zum Postkolonialismus angefangen  zu lesen und möchte mal schauen, wie es sich ein zweites mal liest, wenn ich mich dem Thema etwas mehr gewidmet habe.
Das Buch ist gut zu lesen, aber keine leichte Lektüre. Es packt eine*n immer wieder, sodass ich oft länger gelesen habe, als ich eigentlich wollte.

Ein einziger Kritikpunkt, den ich habe, sind manche- für mich gefühlte- Spekulationen, die mir die Glaubwürdigkeit allgemein etwas nehmen.
Durch Beschreibungen, was Personen auf für die Werbung gebrauchten Photographien wohl gedacht oder wie sie wohl gehandelt haben übersteigt mein Verständnis von akademischer Arbeit, weil es sich, ausser es gibt einen direkten Austausch mit den abgebildeten Personen, um Spekulationen handelt.
Sicher ist es gut, andere Sicht- und Denkweisen sichtbar zu machen. Es fällt mir aber schwer, diese Möglichkeiten in eine akademische Theorie einfliessen zu lassen.
Insgesamt ist es ein sehr lesenswertes, tolles Buch, was für mich viel Neues enthielt, viel zum Nachdenken und Austauschen. Nicht ganz leicht zu lesen, aber das ist gut, mal wieder die Hirnzellen anstrengen 🙂

Rezension Nr. 20

Giulia Caminito
Ein Tag wird kommen

Wagenbach – 2020 – ISBN 978-3-8031-3325-0

Ein kleines Dorf in den Marken (Italien) anfangs des 20. Jahrhunderts bildet die Grundlage des Romans „Ein Tag wird kommen“. Der Landstrich war bekannt für Armut und seine mittellose ländliche Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund entspinnt Guilia Caminito die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Brüder, sowie deren Schwester, auf ihrem Weg zu Emanzipation von Familie und gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Dabei entspinnt Guilia Caminito die Komplexität jener Zeit mit Anarchie und Revolte, Kriegsgeschehen und Spanischer Grippe und verquickt dies mit allgegenwärtigen Themen sexualisierter und häuslicher Gewalt zu einer packenden Familiengeschichte. Dabei lässt die* Autor*in zahlreiche reale historische Figuren einfliessen wie den Anarchisten Augusto Masetti (1888-1966) oder ihren eigenen Grossvater und Anarchisten Nicola Ugolini.
Besonders hervorgehoben wird im Roman dabei die Geschichte der Schwarzen Äbtissin Zeinab Alif (1845/46 – 1926), welche im Roman von der Figur Suor Clara verkörpert wird, welche gegen die Macht des Klerus aufbegehrt und hohes Ansehen in der Dorfbevölkerung geniesst.

Bei der ganzen Komplexität der Geschichte kommen die Figuren und einzelnen Kapitel wunderbar leichtfüssig daher und der ganze Roman ist einfach super spannend zu lesen.

Rezension Nr. 19

Parrella Valeria
Versprechen kann ich nichts

Hanser – 2021 – ISBN 978 3 446 26919 4

Einen Roman, der in einem Jugendgefängnis spielt, gibt es nicht allzu häufig. Der dazu auch noch angepriesen wird, sich auch kritisch mit dem Thema Knast auseinander zu setzen, noch viel seltener. Deshalb war ich schnell überzeugt, das Buch zu lesen. 

Erzählt wird die Geschichte einer Lehrerin, die in einem Jugendgefängnis in Süditalien arbeitet. Dabei bahnt sich eine freundschaftliche Beziehung zu einer jungen Frau an, die zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Die Realitäten und Geschichten der beiden Frauen sind dabei wie aus verschiedenen Welten. Dies spiegelt sich nicht nur im Zynismus der Lehrerin im Kontrast zur Offenheit der jungen Frau wider. Die Annäherung der beiden ist dabei wunderschön erzählt, in einer Sprache, die so zauberhaft ist, dass ich mir während des Lesens vorgenommen habe, extra langsam zu lesen, um etwas länger die nur 136 Seiten geniessen zu können.
Und doch habe ich es an einem Nachmittag gelesen, die letzten 20 Seiten für den nächsten Tag aufgespart- mit grosser Vorfreude.
Es lohnt sich wirklich, dieses Buch langsam zu lesen und Valeria Parellas Sprache Raum zu lassen. Immer wieder schafft sie es wunderbar poetische Sätze zu bilden, ohne dabei kitschig zu werden.

Ein paar kleine Stiche blieben jedoch zurück- so ist der Zynismus der Lehrerin manchmal sehr plakativ und bezieht sich auf gesellschaftliche Klischees in Form von Fatshaming, Rollenbildern, Vorurteilen wer überhaupt in Knästen landet und das Benutzen von antiziganistischen Wörtern, die mir schwer aufgestossen sind. Auch die in der Buchempfehlung beschriebene Knastkritik, fiel für meinen Geschmack eher dünn aus. Trotzdem drückt da immer wieder Kritik am Justizsystem, an Knästen und der kapitalistischen Gesellschaft durch. Die ist zuweilen jedoch sehr subtil, so dass sie von unaufmerksamen Lesenden auch leicht überlesen werden kann.

Also doch nicht zu empfehlen? 
Nach diesen Abzügen bleibt es nach wie vor ein gutes Buch. Es ist wichtig, solche Geschichten zu erzählen, die Teil unserer Gesellschaft sind, aber stets unsichtbar, da hinter Gittern, bleiben. Deshalb: Ja! Unbedingt lesen! Und fehlerfreundlich sein, bei den Dingen, die einer*m aufstossen.

Rezension Nr. 18

Alex S. Vitale
The End of Policing

Verso 2018 ISBN 9781784782894 / 9781784782924

Obwohl das Buch auf Englisch erschienen ist, werde ich die Rezension auf Deutsch schreiben. Momentan gibt es noch keine Übersetzung ins Deutsche, das Englisch ist aber gut verständlich.

„Das Problem ist nicht das Polizei Training, Polizei Diversität oder die Methoden. Das Problem ist die dramatische und noch nie dagewesene Expansion und Intensität des „Policing“ der letzten 40 Jahre, ein fundamentaler Wandel der Rolle der Polizei in der Gesellschaft. Das Problem ist „Policing“ an sich.“

Auf dem Cover steht schon beschrieben, womit Alex S. Vitale sich auf 228 Seiten auseinandersetzt. Er gibt dem Thema einen ordentlichen Aufbau, indem er sich einzelnen Teilbereichen des „Policing“ widmet. Die Kapitel sind dabei logisch und immer gleich aufgebaut: Zunächst eine Bestandesaufnahme, oft mit historischem Hintergrund. Darauf folgend die (staatlichen) Reformen. Zuletzt geht er auf Alternativen ein.  So behandelt Vitale Themenbereiche wie Sex Work, Obdachlosigkeit, Gangs, Polizei in Schulen, Nationalgrenzen und einige mehr. Er schafft es gut verständlich sich mit der Kritik des derzeitigen Systems auseinander zu setzen und mögliche Alternativen aufzuzeigen.

Die Schwierigkeit ist stets, wie sehr taucht mensch in ein Thema ein, dass es nicht oberflächlich wird aber auch nicht auf 1000 Seiten endet. Vitale hat diese Gratwanderung sehr gut geschafft. Wer tiefer ins Thema eintauchen möchte kann sich den 30 Seiten Fussnoten und weiteren Literaturempfehlungen widmen.

Vitale lebt in den USA und so liegt der Schwerpunkt des Buches und der Auseinandersetzung auch dort. Hin und wieder tauchen Vergleiche aus anderen Teilen der Welt auf. Einige Kritikpunkte sind auch ausserhalb der USA anwendbar, andere wiederum nicht.

So stellt sich mir die Frage, ob es hier nicht schlauer ist, das Buch „Kritik der Polizei“, herausgegeben von Daniel Loick, zu lesen. Es ist zwar aus Deutschland, damit aber unserem Kulturkreis näher. Oder eben beide. Das Buch ist ein sehr guter Einstieg um sich mit dem Thema Polizeikritik auseinanderzusetzen.

Es lässt sich gut und schnell lesen und bringt dramatische Informationen ans Licht. Also ja, unbedingt lesen und weitererzählen. 

Leider aus aktuellem Anlass:   
27.11.21 Demo in Zürich: Justice for Nzoy! Stop Police Brutality and Racial Profiling, Join the Movement, Exit Racism Now!     

Am 30. August 2021 wurde am Bahnhof von Morges (VD) unser Bruder, Sohn, Cousin, unser geliebter Freund Nzoy durch drei Schüsse aus einer Polizeiwaffe aus dem Leben gerissen. Dieser Todesfall ist ein weiterer in einer ganzen Reihe von Morden aufgrund von menschenverachtender, rassistischer Polizeigewalt.     

Dreimal schoss der Polizist auf ihn, den dritten Schuss gab er ab, als Nzoy taumelnd auf dem Perron zu Boden ging. Nach den Schüssen fesselten ihn die Polizisten mit Handschellen, leerten seine Taschen, liessen ihn liegen. Erste Hilfeleistung leistete ein zufällig vorbeilaufender Krankenpfleger. 
Die Lügen der beteiligten Polizisten konnten nur aufgedeckt werden durch einen Passanten der die Hinrichtung filmte.   

Wir fordern:  

•   Eine lückenlose Aufklärung dieses Falles, von einer unabhängigen Instanz.  

•   Eine Berichterstattung, die strukturellen Rassismus aufdeckt und nicht verschleiert.  

•   Wir fordern eine schweizweite unabhängige Instanz mit weitgehenden Befugnissen, die   Fälle von Polizei- und Behördengewalt und strukturellem Rassismus aufarbeiten und   Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen kann.  

•   Dass Schwarze Menschen, People of Color und auch Menschen mit psychischen   Erkrankungen in der Schweiz bedingungslos überall und auch vor der Polizei sicher und   geschützt sind.  

•   Wir fordern alle notwendigen Massnahmen für ein Ende von Rassismus in der Schweiz.

Rezension Nr. 17

Fang Fang
Weiches Begräbnis

Hoffmann und Campe, 2021, ISBN 978-3-455-01103-6

Eine Geschichte vom individuellen und kollektiven Vergessen – so könnte mensch Fang Fangs Roman „Weiches Begräbnis“ kurz zusammenfassen.
Doch um welches Vergessen geht es hier?
Die*r Autor*in widmet sich in dem Roman einem Kapitel der chinesischen Geschichte, welches aktiv aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurde und wird – der sogenannten „Bodenreform“ von 1949-1952. Dies in Romanform darzustellen schafft Fang Fang sehr eindrücklich anhand der Geschichte einer älteren Frau, die scheinbar aus dem Nichts ins Wachkoma fällt. Dabei versucht der Sohn zu verstehen wieso seine Mutter kurz vorher Dinge äusserte, die ihr als bildungsferne Hausangestellte überhaupt nicht zugänglich sein konnten. Der Plot ist gelegt und Fang Fang zieht eine*n in den Sog des Romans auf der Suche der zwei Protagonist*innen um die verschüttete Existenz, so dass mensch das Buch schwer wieder weglegen kann.

Im Roman erklimmt die Mutter im Zustand des Wachkomas Stück für Stück ihre zeitlebens verdrängte Geschichte und gibt uns – den Leser*innen – einen Einblick in die Vorgänge der chinesischen Bodenreform, die mit äusserster Brutalität durchgesetzt wurde und traumatische Folgen für viele der Überlebenden und Verfolgten hatte und hat. Parallel entwickelt sich der Handlungsstrang des Sohnes auf der Suche nach der Geschichte seiner Mutter, die ihn zu verschütteten Stätten der Bodenreform in der chinesischen Provinz führt und dabei auch zu der Frage wieso Vergessen eine durchaus nachvollziehbare Wahl sein kann.

Die Bedeutung des kollektiven Verdrängungsprozesses und der politischen Brisanz des Romanes wird anhand dessen deutlich, dass der Roman mittlerweile in China nicht mehr erhältlich ist. Wenn auch nicht verboten, so ist er doch als unliebsame Literatur aus den Bücherregalen verdrängt worden. Damit das Vergessen weitergehen kann…

Rezension Nr. 16

NSU-Watch
Aufklären und einmischen – Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess
2020 – Verbrecher Verlag – ISBN: 9783957324221

Als 2011 die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozia­listischen Untergrunds« NSU aufflog wurde vielen wieder schmerzlich bewusst wie bedrohlich und gefährlich Rechter Terror für alle Menschen ist, die nicht in das rassistische und nationalsozialistische Weltbild der Nazis passen. Die Bilanz des NSU: 10 Morde, 3 Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle in den Jahren 1998 bis 2011.

Die Taten des NSU zeigen deutlich auf, wie wirksam Rechter Terror agiert und wie blind Medien und Gesellschaft, sowie auch eine vermeintlich aufgeklärte Linke, sein kann. Denn es bedurfte erst der Selbstenttarnung des NSU bevor die Morde und Anschläge überhaupt als Rechter Terror identifiziert wurden. Diese Haltung der Ignoranz spiegelt sich auch über den gesamten Prozess im Verhalten des Gerichts, im Auftreten der Bundesanwaltschaft sowie in der (Nicht-)Berichterstattung der Medien wider. Dabei wird die These der Einzeltäter vehement verteidigt und die Rolle der Behörden, vor allem des Verfassungsschutzes, nicht aufgearbeitet.
Um dem etwas entgegenzusetzen formierte sich das Bündnis »NSU-Watch« aus zahlreichen antifaschistischen und antirassistischen Gruppen und Einzelpersonen, die zum Themenkomplex NSU recherchieren und aufklären.
Kernpunkt von »NSU-Watch« bildet dabei die Begleitung und umfangreiche Berichterstattung zum NSU-Prozess am Oberlandesgericht 2013-2018 in München sowie der einzelnen Untersuchungssauschüsse.

Nun hat das Autor*innenkollektiv von NSU-Watch in ihrem Buch „Aufklären und Einmischen“ ein erstes Resümee des NSU-Prozesses gezogen. Das Buch gibt einen gut lesbaren und umfassenden Überblick über das Prozessgeschehen.
Das Buch arbeitet sehr gut die nicht gelingende juristische Aufarbeitung heraus und verdeutlicht, wie die Forderungen der Betroffenen und Nebenkläger*innen nach umfassender Aufklärung nicht gehört wurden. Das Ausblenden der Verfassungsschutzbehörden im Verfahren und die Verurteilung der mitangeklagten Nazis zu lächerlichen Strafen zeigt dabei nicht nur die Blindheit des Gerichtes auf, sondern verdeutlicht auch ganz klar welche Positionen gesellschaftlich gewollt und vertretbar sind.
Deswegen sei dieses Buch allen engagierten Antifaschist*innen und Antirassist*innen ans Herz gelegt.

Kein Schlussstrich!

Als Ergänzung ist der Podcast Saal 101: Das Dokumentarhörspiel zum NSU-PROZESS sehr zu empfehlen.

Rezension Nr. 15

Hengameh Yaghoobifarah
Ministerium der Träume

Blumenbar – 2021 – ISBN 978-3-351-05087-0

Ein fulminanter Roman. Nach dem ersten Viertel hat es mich so reingezogen, dass ich einen ganzen Sonntag lesend auf dem Sofa verbrachte, bis das Buch (leider..) zu Ende war.

Hengameh Yaghoobifarah ist ein sehr spannender, gesellschaftskritischer, zwischendurch sehr trauriger und trotzdem Mut machender Roman gelungen. Nas, die als Türsteher*in in einer queeren Bar in Berlin arbeitet, verliert ihre* Schwester Nushin und kümmert sich fortan um deren pubertäre Tocher.
Nas Mutter sitzt ihr im Nacken, da diese den unkonventionellen Lebensstil von Nas nicht goutiert. Mit den Mitarbeitenden in der Bar gibt es Stress, da Nas durch die Trauer über Nushin und durch die neue Lebenssituation mir ihrer Nichte, bei der Arbeit austickt. Und zusätzlich schwebt über Nas der unglaublich schmerzhafte Verlust ihrer Schwester und der quälende Verdacht, dass Nushins Tod von ihr selbst gewählt war.

Ministerium der Träume ist ein Roman über Wahl- und Zwangsfamilie, über den Zusammenhalt zwischen Geschwistern und zwischen Freund*innen, über Trauma, über Liebe, über das Aufwachsen in einer rassistischen Gesellschaft und über das Leben ausserhalb der Mehrheitsgesellschaft.


Rezension Nr. 14

Inna Barinberg
Mehr ist Mehr – Meine Erfahrungen mit Polyamorie

edition assemblage – 2020 – ISBN 978-3-96042-089-7 

Soeben fertig gelesen, vorgestern angefangen und verschlungen. Das Buch von Inna ist ein wunderbar einfach zu lesender Einstieg in das Thema Polyamorie. Dabei beleuchtet Inna als non- binäre, queere Person unterschiedliche Aspekte der Polyamorie wie Abmachungen, Eifersucht, Kind, mental health und viele andere. Durch die knapp 140 Seiten bin ich förmlich geflogen.

Es liest sich flüssig und ist ein schöner Einblick in ein Phänomen, das auch in linken Kreisen wenig praktisch gelebt wird. Es ist empowernd zu lesen, dass es bei anderen Menschen gut funktioniert und dabei Erfahrungen vermittelt zu bekommen, was in deren Fall gut und was weniger gut funktioniert hat. Das heisst nicht, dass es bei einer*m selbst dann auch so klappt. Aber es ist schon einmal ein Anhaltspunkt und eine Idee, was möglich sein könnte. Am Ende muss jede*r für sich selbst entscheiden, was sich richtig anfühlt und was die Ansprüche an das eigene Beziehungsmodell sind. 

Für mich als Person, die seit Jahren offene Beziehungsmodelle praktiziert, darin aber ein Shift stattfindet, war es eine grosse Hilfe, andere Möglichkeiten zu denken. Die eigenen Erfahrungen wiederzufinden und Wege aufgezeigt zu bekommen, wie mensch mit bestimmten Schwierigkeiten umgehen kann. Und doch denke ich, dass das Buch wohl auch gut ist für Menschen, die ein monogames Beziehungsmodell leben, sich einfach weiterbilden wollen oder an einer Veränderung interessiert sind.

Inna beantwortet die Fragen, die zunächst auftauchen- wie geht es organisatorisch, wie kann ich mit meiner Eifersucht umgehen und was ist der Unterschied zwischen einer offenen Beziehung und polyamourösen Beziehungen?
Es bleibt ein Erfahrungsbericht und recht an der Oberfläche, sonst hätte es nicht auf die 140 Seiten gepasst. Es ist jedoch ein wunderbarer Einblick in eine diverse Realität, der Spass und Lust macht, sich damit auseinanderzusetzen.
Danke Inna für dieses Buch, es hat mir gerade sehr geholfen meine derzeitige Situation mit ein bisschen Ruhe und weniger Aufregung zu betrachten. Möge es auch anderen zu einer passenderen Beziehungsform helfen. Viel Spass beim Lesen!

***

Zuerst dachte ich, ok, wieder mal ein Buch über Polyamorie. Wahrscheinlich will mir di*er Autor*in wieder mal weis machen, dass es gar nicht schwierig ist. Dass die Eifersucht unnötig ist und überwunden werden muss. Wahrscheinlich wieder mal ein Buch das beschreibt, wie einfach es ist, durch Polyamorie zum persönlichen „and they lived happily ever after“ zu finden.

Doch Inna Barinbergs Buch „Mehr ist Mehr“ ist anders. Zuerst ein bisschen oberflächlich, erzählt Inna in späteren Kapiteln sehr offen und ehrlich von Innas eigenen Erfahrungen mit Polyamorie. Davon, dass es manchmal unglaublich schwierig ist. Und schmerzt. Und die Eifersucht einem manchmal auch nach Jahren noch umhauen kann. Und dass es trotzdem wunderschön und bereichernd sein kann, mehrere Menschen gleichzeitig zu begehren und/oder zu lieben.

„Mehr ist mehr“ ist mit knapp 140 Seiten kein dicker Wälzer und ist durch den persönlichen Erzählstil Innas einfach zu lesen. In den verschiedenen Kapitel beleuchtet das Buch unter anderem die Themen Kommunikation, Zeitmanagement, Eifersucht, Kinder bekommen im Polykül und psychische Gesundheit. „Mehr ist mehr“ gibt Einblicke in ein Polykül, ohne den Anspruch zu haben, die allgemeine Wahrheit über Polyamorie zu vermitteln. Ein sehr lesenswertes Buch, sowohl für Menschen mit und ohne Polyamorie Erfahrung.

Mir hat das Buch sehr gut getan. Vor allem die undogmatische Art Innas und die Ehrlichkeit auch über eigene Schwierigkeiten zu schreiben, habe ich sehr geschätzt. Ich empfand ich es als sehr positives Buch, das auch Mut macht, immer wieder in Auseinandersetzung zu gehen (auch und vor allem mit sich selbst). 

Rezension Nr. 13

hafsa zayyan
we are all birds of uganda

#Merky Books – 2021 – ISBN 978 1 529 11865 0

Das Buch ist gerade auf English erschienen und auch in dieser Sprache in der Lotte erhältlich. Ich schreibe die Rezension trotzdem auf Deutsch.

In diesem Debutroman von hafsa zayyan begleiten wir zwei Generationen einer Familie durch turbulente Zeiten. Der Roman ist in unterschiedlichen Dekaden und auf verschiedenen Kontinenten zuhause – und springt, mithilfe von verschiedenen Erzählformen, zwischen diesen Realitäten.
Erzählt wird die Geschichte der Familie Saeed mit den Schwerpunkten bei Hasan und seinem Enkel Sameer. Im Laufe des Buches wird mehr und mehr verständlich, wie diese beiden Geschichten zusammenhängen und was die beiden, ausser ihrer Familienbande, verbindet. Und was sie doch auch trennt.
Der Roman nimmt eine*n recht schnell in Bann und es fiel mir schon kurz nach Beginn des Lesens schwer, das Buch zur Seite zu legen. Wenn Romanfiguren mich in meinem reellen Leben begleiten und ich mir Gedanken mache, was wohl als nächstes passiert, dann hat es mich gepackt. Dies war auch bei diesem Roman der Fall. Dabei handelt es sich gar nicht um eine besonders actionreiche Geschichte, nein, es ist die Tiefe der Geschichte, die mich hineingezogen hat.
Der Roman behandelt einen Teil der Weltgeschichte, von dem ich noch nie gehört hatte: von „Asian Africans“ in Uganda, die während der Kolonialzeit von Indien nach Uganda ausgewandert waren. Im Rahmen der Befreiungskämpfe vom Kolonialismus kam es in den frühen 1970er Jahren zu regelrechten Säuberungen der „Asians“ in Uganda, obwohl diese schon mehrere Generationen dort gelebt hatten. Viele von ihnen wurden staatenlos oder mussten z.B. nach Britannien fliehen, wenn sie noch einen Pass von dort hatten. Erst in den späten 1980er Jahren gab es einen Wandel in der Politik, als wieder vermehrt „Asian Africans“ angeworben wurden, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Romans und der Geschichte ist der Rassismus gegen die Schwarze Bevölkerung in Uganda aus der Community der „Asians Africans“.
Das Buch gibt einen guten Einblick in diesen Teil der Weltgeschichte und empfiehlt auf mehreren Seiten am Ende weitere Literatur zum Thema.
hafsa zayyan schafft es, einen schweren und schwierigen Teil der Menschheitsgeschichte in einen wirklich unterhaltsamen und lehrreichen Roman zu packen. Dazu ist es auch einfach ein sehr schönes Buch mit einer zauberhaften Haptik 😉
Absolut empfehlenswert!

Rezension Nr. 12

Kübra Gümüşay
Sprache und Sein

Hanser Verlag – 2020 – ISBN 978-3-446-26595-0

Dieses Buch ist Liebe (platter Satz, aber so fühlt es sich für mich an!). Danke Kübra Gümüşay, dass Sie diese Worte niedergeschrieben, dieses Buch und die Inhalte so wunderbar formuliert haben. Ich bin sprachlos.

«Wie können wir als Gesellschaft über unsere Probleme sprechen, ohne den Hass der Rechten zu nähren- respektvoll, wohlwollend, ohne Angst vor Fehlern? Wie können wir frei sprechen?» 

Dies ist die Ankündigung, die auf der Rückseite des Buches zu lesen ist. Gümüşay widmet sich in 10 Kapiteln einzelnen Aspekten der Sprache, Analysen, Strategien der «Rechten» und dem Blick nach vorn. Dabei ist es so gut lesbar wie ein unterhaltsamer Sommerabendroman. Ich bin förmlich durch die nicht ganz 200 Seiten geflogen.

Was für ein tolles Buch, das eine so gute Gesellschaftsanalyse ist, dass ich es jeder*m zum Lesen in die Hand drücken möchte. Ja, das Buch wurde sehr gehypt- don`t trust the hype. Aber in diesem Fall – unbedingt dem Hype trauen! Es lohnt sich. Gümüşay schafft es, die schwierige Materie so gut und hoffnungsvoll zu analysieren und wiederzugeben, dass mir das Herz aufging beim Lesen.

«Denn für ein wirklich gemeinsames Nachdenken über unsere gemeinsame Zukunft braucht es vor allem das: Wohlwollen zwischen Menschen, die sich prinzipiell den gleichen Werten verschrieben haben. Kritisches Denken bedeutet nicht, sich über die Kritisierten zu erheben. Wer wohlwollend kritisiert, der öffnet seinem Gegenüber eine Tür, durch die er auf einen zugehen kann»

Unbedingt lesen, es ist eine grosse Freude!

***

Wie können wir als Gesellschaft über unsere Probleme sprechen, ohne den Hass der Rechten zu nähren – respektvoll, wohlwollend, ohne Angst vor Fehlern? 

Dieser Frage geht Kübra Gümüşay in ihrem Buch „Sprache und Sein“ nach. Sie schreibt von ihren persönlichen Erfahrungen in vier verschiedenen Sprachen zuhause zu sein und wie es sich anfühlt, wenn ein bestimmtes Wort nicht übersetzt werden kann, da es keine treffende Bezeichnung in der anderen Sprache gibt.

Sie beschreibt wer in der Gesellschaft die Benannten sind und wer die Macht hat eben diese zu benennen, wie sich das auf das Individuum und somit wieder auf die ganze Gesellschaft auswirkt. Gümüsay ruft dazu auf, als Angehörige*r einer Minderheit so zu sprechen als wäre mensch in der Mehrheit, aufzuhören ständig sich selber zu erklären, aufzuhören das Gefühl zu haben für die ganze Gemeinschaft der jeweiligen Minderheit sprechen zu müssen und anzufangen frei zu sprechen.

„Sprache und Sein“ ist gut zugänglich geschrieben, unterhaltsam und voller spannender Gedankengänge der Autorin. Obwohl ein Sachbuch, schafft es die Autorin durch ihre Sprache und die vielen persönlichen Beispiele, auch nicht eine Zeile lang das Gefühl von trockener, staubiger Theorie aufkommen zu lassen. Wirklich sehr empfehlenswert.

Rezension Nr. 11


Ronya Othmann
Die Sommer
ISBN: 978-3-446-26760-2 | 2. Auflage 2020 | Hanser Verlag

Der* Autor*in ist ein sehr beeindruckendes Buch gelungen. In seiner Sprache schafft der Roman es, eintauchen in das Lebensgefühl eines Menschen der zerrissen ist zwischen Lebenswelten in Europa und der Heimat des Vaters in den kurdischen Gebieten von Syrien, in die die Protagonist*in jeden Sommer in ihrer Kindheit reist. In das Dorf der Grossmutter, mit all den Sehnsuchtsorten, -gefühlen und -menschen, sowie der Geschichte von Unterdrückung und Vertreibung der êzîdîschen Bevölkerung, zu denen sich die Protagonist*in nie richtig zugehörig gefühlt hat – oder eben gerade doch. In ihrer* klaren und gleichzeitig sehr bildhaften Sprache schafft es die* Autor*in die Leser*innen in den Bann zu ziehen, auf dem Weg der Protagonist*in von den Sommeraufenthalten als Kind, dem Aufbruch in der Jugend und dem Infragestellen von Zugehörigkeiten. So gut nachvollziehbar wird das pubertäre Empfinden der Protagonist*in in der deutschen Provinz mit ihrem* Versuch der Distanzierung von ihrer* êzîdîschen Herkunft mit der sie ständig durch den Vater, der stundenlang das kurdische Fernsehen verfolgt, konfrontiert wird. Und gleichsam folgt ein Aufatmen mit der weiteren Entwicklung der Protagonist*in, welches durch die Geschehnisse im syrischen Bürgerkrieg ausgelöst wird und dem sich die Protagonst*in nicht weiter entziehen kann, da es sie unmittelbar berührt. Nicht mehr nachvollziehbar wird das Desinteresse ihrer deutschen Freund*innen und immer mehr entzieht sich ihr* Zugehörigkeitsgefühl zu dem von haltlosen Belangen geprägten Leben ihres Freund*innenkreises mit den daraus folgenden notwendigen und im Roman so eindrücklich erschlossenen Konsequenzen. Der* Autor*in ist zweifellos ein sehr grosser Wurf gelungen und ich wünsche mir dass alle Menschen in der europäischen Komfortzonen diesen Roman lesen!

Noch eine Anmerkung zum Buch ‚Die Sommer‘ von Ronya Othmann. Leider ist unser Exemplar aus der Lotte verschwunden.. Falls Du es ausgeliehen hast, bringe es doch bitte zurück oder schreibe eine Mail an hallo@lotte-bibliohtek.org, damit wir Dich in die Ausleihliste eintragen können. Merci!

Rezension Nr. 10

Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal.
Arbeitsscheu und moralisch verkommen. Verfolgung von Frauen als „Asoziale“ im Nationalssozialismus.

ISBN: 978-3-85476-596-7 | 2019 | mandelbaum Verlag | 377 Seiten


Sogenannte „soziale Randgruppen“ sind immer wieder und aktuell wieder verstärkt im Fokus rechts-/liberaler Politik und Meinungsbildung.
Dem entgegen ist das Buch ein bereichernder Beitrag der Bewusst-Werdung und Bewusst-Erhaltung wie Ausgrenzung und Marginalisierung im Sozial- und Gesundheitssystem zu gravierenden Auswirkungen für die als „asozial“ gelabelten Menschen führt.
Dafür schafft das Buch einen detaillierten und gut verständlichen Einblick in das brutale und mörderische System vor, zu und nach NS-Zeiten anhand der Vefolgung von Frauen, die als „asozial“ gelabelt wurden. Anhand der Verflechtungen von stereotypen und pauschalisierenden Verurteilungen, die sich an konstruierten Gesellschaftsvorstellungen und -normen orientieren, zeigen die* Autor*innen deutlich wie daraus jahrzehntelange Institutionalisierung mit Freiheitsentzug, Folter und zwangsmedizinischen Massnahmen entstehen kann die mit Deportation und Mord enden kann, bzw. sich über die NS-Zeit für die betroffenen Menschen fortschreiben kann.
Dass diese Geschichte nicht überwunden ist wird anhand aktueller Entwicklungen deutlich. Von daher ist es lohnenswert das Buch zur Hand zu nehmen und für gesellschaftliche Zustände der Ausgrenzung und Pathologisierung wachsam zu bleiben. Für alle interessierten Leser*innen ist es wichtig zu wissen, dass das Buch ganz klar aus der Forschung und Wissenschaft heraus geschrieben ist, d.h. es liest sich nicht einfach so weg, bietet aber wichtige Zeitzeug*innenbezüge und schafft dadurch einen sehr wichtigen Beitrag.

Rezension(en) Nr. 9

Diese Woche bekommst Du gleich drei Rezensionen. Ein Buch – drei verschiedene Stimmen dazu. Um Dir danach auch selber eine Meinung zu bilden, komm in der Lotte vorbei und leih es aus.

mawil. Kinderland – Eine Kindheit im Schatten der Mauer.
reprodukt 2014 ISBN 978-3-943143-90-4

Ein Comic, das den Alltag von Mirco erzählt. Eine Kindheit (oder fast schon Jugend?) in Berlin- dem Ostteil der Stadt- im Jahre 1989. Völlig unaufgeregt ist es eine Innenansicht der DDR, der pyramidenförmigen Milchtüten, der FDJ- Hemden und Pioniershalstüchern. Es geht um die wöchentlichen Sirenen, um die Kirche und um PingPong, immer wieder PingPong. Es ist eine Alltagsgeschichte, die erfrischend leicht ist und eine*n immer wieder zum Schmunzeln bringt. Dabei ist der Zeichenstil von mawil bunt und unterhaltsam und lädt zum genauen Hinschauen ein. Und „Mürgo“ ist einfach wunderschön gezeichnet!Es ist ein unterhaltsames Buch für junge (und auch ältere) Menschen, die einen kleinen Einblick ins Leben eines Jungen aus der DDR werfen wollen. Das angehängte kleine DDR- Glossar hilft bestimmte Dinge aus dem Comic zu verstehen. Oder hättest Du gewusst was „die Firma“ ist?
***
Ostberlin im Sommer 1989: Der 7. Klässler Mirco Watzke muss sich mit allerlei Problemen rumschlagen. Die kleine Schwester nervt, aufgrund einer Strassenumleitung kommt er zu spät zur Schule, die älteren Mitschüler ärgern ihn und beim Pingpong Rundlauf fliegt er immer als erster raus. Zum Glück ist da der Neue aus der Parallelklasse, mit dem sich Mirco nach und nach anfreundet und zusammen erleben sie so einiges.Der Comic, der in den letzten Tagen der DDR spielt, dreht sich oft um Pingpong-Turniere auf dem Schulhausplatz. Auf den ersten Blick könnte die Geschichte an einem x-beliebigen Ort spielen. Doch immer wieder, fast beiläufig, sind da Hinweise auf die DDR und ihr nahendes Ende. Seien es die Eltern, die sich abends tuschelnd über „Auswanderungen“ unterhalten oder die Pionierleiterin Frau Krantz, die heimlich westdeutsche Magazine liest. Im Glossar hinten im Buch sind die diversen DDR Begriffe einfach und verständlich erklärt.
Kinderland ist eine gelungene „coming-of-age“ Geschichte, liest sich sehr leicht und eignet sich gut für einen Nachmittag auf dem Sofa. Der Comic ist auch als Lektüre für Jugendliche geeignet. 
***
Ich als ostdeutsch sozialisierte Person konnte beim Lesen des Comics wieder eintauchen in das Lebensgefühl meiner DDR-Jahre mit all ihren Realitäten, Absurditäten, Trivialitäten und Dramatiken. Mawil ist in dem Comic in Form einer Coming-of-age-Story ein wunderbar vielschichtiges Abbild des Lebensgefühls der damaligen Zeit gelungen. Zwänge und Ausbruch in Jugend zwischen Freiheitssuche und -unterdrückung – Ping Pong und Fahnenapell, Völkerball und Mangelwarendealerei, Westfernsehen und Altpapiersammlung. Dabei musste ich sehr oft lachen, da Mawil einfach einen super-charmant-trockenen Humor hat – beim Schreiben wie Zeichnen.Und für alle nicht-„Ossis“ gibt’s ein super bebildertes Glossar im Anhang das alle Unklarheiten beseitigt.

Rezension Nr. 8

Michel Raab, Cornelia Schadler (Hrsg.). Polyfantastisch? Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis.

ISBN 978-3-89771-282-9 | 2020 | Unrast Verlag | 224 Seiten. 


Der Band gibt einen umfassenden Einblick in den aktuellen Diskussionsstand um Polyamory und Nichtmonogamie.

Dabei geht es den Herausgeber*innen nicht um ein objektives von außen Beschreibendes sondern vor allem um eine Innenperspektive. Dementsprechend kommen vor allem persönliche Erfahrungen zu Wort und verknüpfen sich mit theoretischen Überlegungen.

Durch diese Herangehensweise bildet sich die Vielschichtigkeit des Themas prägnant ab. Dadurch leistet der Band einerseits einen sehr guten Debattenbeitrag für nichtmonogam lebende wie interessierte Menschen und offeriert andererseits vielfältige Eindrücke und wichtigen Facetten der Thematik für alle denen das Thema bisher fern war.

Das Buch lädt dazu ein stereotype Vorstellungen von Nichtmonogamie sowie eine scheinbare zwangsläufige emanzipatorische Praxis kritisch zu hinterfragen.

Rezension Nr. 7

Noah Sow. Die schwarze Madonna. Afrodeutscher Heimatkrimi.
Selbstverlag – 2019 – ISBN 9783749478194

Wow, wie geil ist das denn! Die Autorin Noah Sow thematisiert in dem Buch „Die schwarze Madonna“ strukturellen Rassimus in der Gesellschaft, Fremdenfeindlichkeit, Black Empowerment, white fragility, korrupte Vetternwirtschaft in der Politik und Kirche, Alltagsrassimus, transkulturelle Adoption und  dies alles in einen spannenden Krimi gepackt!

Die Hauptprotagonistin, die Hamburger Kaufhausdetektivin Fatou Fall, fährt mit ihrer elfjährigen Tochter Yesim in die katholische Wallfahrtsstadt Altötting in Oberbayern. Das Mädchen soll dort „ihre anderen Roots“ kennenlernen. Als sie die Kapelle der Schwarzen Madonna besuchen, werden sie Zeuginnen eines Vandalismus mit islamistischen Parolen. In der angespannten Stimmung des Regionalwahlkampfs macht sich zunehmend fremdenfeindliche Stimmung breit. Doch Fatou glaubt nicht daran, dass die Täter Fremde waren. Sie folgt ihrer Intuition und beschließt, den Vorfall aufzudecken…
Dieser afrodeutsche Heimatkrimi ist eine grosse Bereicherung für die deutsche Krimilandschaft. Für Noah Sow ist „der herkömmliche europäische Krimi durchweg Fantasyliteratur. Er ignoriert oder vereinfacht karikaturhaft gesellschaftliche Differenzen und deren sehr reale Auswirkungen auf Millionen sehr reale Leben.“
Erzählt aus der Sicht einer Schwarzen Frau werden in „Die schwarze Madonna“ Schwarze Charaktere nicht in rassistischen Stereotypen repräsentiert und kontern schlagfertig typische, alltagsrassistische Situationen. Sow schreibt zu ihrer Motivation das zu Buch zu schreiben: „Ich wollte einmal ein ‚leichtes‛ Buch aufschlagen, das in meinem eigenen Kulturkreis spielt, und in dem ich nicht befürchten muss, als finstere Bedrohung, hungrig, hauptberuflich hilflos oder exotisches Sexobjekt repräsentiert zu werden.“
Dies ist ihr meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Leicht ohne doof zu sein, kritisch aber nicht polemisch, humorvoll und bis zum Ende spannend – als Urlaubkrimi sehr zu empfehlen.

Auch lesenswert: Auf ihrer Webseite gibt Noah Sow Einblick darüber, wie es ihr mit der Vorlage für das Buch bei der Verlagssuche ergangen war und wie rassistisch sich die Agenturen ihr gegenüber verhalten haben.https://www.noahsow.de/blog/meine-neue-buchveroeffentlichung-afrodeutscher-heimatkrimi-die-schwarze-madonna-detektivin-fatou-ermittelt-in-bayern/

Rezension Nr. 6

Dorothee Elmiger – Aus der Zuckerfabrik
Hanser – 2­020 – ISBN 978-3-446-26750-3

Wie schön kann ein Satz sein. Wie gross die Freude über die Aneinanderreihung von bestimmten Wörtern.

Bei diesem Buch von Dorothee Elmiger war es mal wieder so, dass ich dachte: JA!!! Wie gut!!!
Das Buch, ist es ein Roman? Ein Manuskript? Autobiographie oder Fiktion? Sicher eine Recherche, wie es auf der Buchrückseite zu lesen ist. Es sind aber auch viele Assoziationen, Gedankensprünge und Sprünge durch Raum und Zeit. Zunächst gewöhnungsbedürftig, jedoch nicht im negativen Sinne. Einfach wirklich ungewohnt, so zu lesen. Der Beginn eines Eintauchens in Themen wie Kolonialismus, Spielsucht, Ekstase, Zucker. Wer will ist eingeladen noch viel weiter zu gehen, in die Tiefe. Auf ca. 5 Seiten gibt es im Anschluss an die Lektüre die Herkunftsnachweise, aus denen zitiert wird. Mehrere hundert Jahre Menschheitsgeschichte finden ihren Platz auf 265 Seiten. Eine Einladung ans Weiterdenken und sprachlich wie inhaltlich in die Zukunft gehen.

Eine Freude dieses Buch. Das Lust auf mehr macht.

Rezension Nr. 5

MAX CZOLLEK – Desintegriert euch!
btb – ISBN: 978-3-446-26027-6 978


Die Streitschrift richtet sich gegen die allseits der Gesellschaft geforderte Integration in die Mehrheitsgesellschaft und zwar all jener Menschen die bewußt aus dieser Dominanzkultur ausgeschlossen werden. Die*der Autor*in fokussiert dabei auf die Erfahrungen und Anforderungen die an jüdische Menschen gestellt werden. Sei ein „guter deutscher Jude“ und gib immer brav Auskunft über den Holocaust und sei dankbar wieder ein jüdisches Leben in Deutschland führen zu dürfen. Aber mache sicher keine Witze über den Holocaust und habe keine Rachegelüste, sondern füge dich demütig ein an das deutsche Gedächtnis- und Integrationstheater um die eitle deutsche Volksseele zu umarmen. Mit viel Sarkasmus, Wut und Witz bringt Max Czolllek die Integrationsanforderungen auf den Punkt entlarvt diese in ihrer Eindimensionalität als Wundsalbe des deutschen Nationalismus. Max Czollek wirft so dem ewigen Integrationsgedöns den Fehdehandschuh in die scheinheilige Fratze. Absolut lesenswert!

Rezension Nr. 4


Kaśka Bryla – Roter Affe
Residenz Verlag, ISBN: 978-3-7017-1732-3

Was für ein fulminantes Romandebüt. Ich habe wirklich seit langem nicht mehr so schnell ein Buch gelesen. Wer auf Spannung, Action und Atemlosigkeit steht hat mit diesem Buch einen guten Griff gemacht. Ist das sonst nicht das Genre was mich anspricht weil es sich oft eindimensional und stereotyp von den Figuren wie Handlungen her liest hat die* Autor*in hier sehr fein seziert und zusammengesetzt.  Die Story berührt diverse Facetten, so divers wie das Leben ist – von Freund*innenschaft, Pathologisierung, sexualisierter Gewalt, Migration, Macht und einiges mehr ist vieles im inhaltlichen Fokus ohne dass die Story überladen wirkt. Ebenso ist es mit den Protagonist*innen, welche alle sehr vielschichtig und nicht widerspruchsfrei sind. Dabei bedient die* Autor*in keine Klischees, sondern schreibt sehr reflektiert und mit kritischem Anspruch. Die Schauplätze führen uns über Vororte Wiens, Autobahnrastätten und polnischer Provinz zu Abgründen menschlichen Daseins und tiefer traumatischer Erfahrungen und Selbstaufgabe, aber auch zu Selbstermächtigung, Zusammenhalt und Solidarität. Spannend, spannend, spannend!

Rezension Nr. 3

Jennifer C. Nash – black feminism reimagined . after intersectionality
Duke University Press – ISBN: 978-1-4780-0059-4

Intersectionality, the concept of the intersection between race, gender and class has its origin in black feminism, and is by now not only a widely accepted term for diversity discourse far beyond black feminism, but became like a hurdle to pass to count as a „good“ feminism. Jennifer Nash (black feminist and Associate Professor of African American/ Gender/ Sexuality Studies at Northwestern University) shows in her book that despite the promising rise of this concept – to look out for the pitfalls of its dominance: how „intersectionality“, instead of opening a field to an enriching discourse on the complexity of reality for black women – became like a disciplining tool for black feminists to correct other feminisms or corporate diversity programs about the concepts use, origin/“property“, integration – an attitude that traps black feminist analytics in a defensive position and hinders their academic and creative agency. Jennifer Nash encourages to surrender the rigid shackles of this concept and suggests an opening of the space to a more vulnerable embracing and letting in of the realities of each other.This book helped me deepen the understanding of the academic field of black feminism, black womens experience within academy in the US and various not so innocent appropriations of „intersectionality“. It touched me with a hunch of the potential of a more vulnerable encounter with black women and others within feminism and political circles.

Rezension Nr. 2

Jurga Vilè und Lina Itagaki – Sibiro Heiku . eine Graphic Novel aus Sibirien
Baobab Books, ISBN 978-3-907277-03-4
Litauen, dieses kleine Land an der Ostsee, in den 40er Jahren Spielball der grossen Mächte um sie herum. Viele Menschen wurden von dort nach Sibieren in Arbeitslager verschleppt. So erging es auch dem Vater der einen Autorin. Ein schwieriger Teil litauischer Geschichte der hier einen Platz bekommt.Entstanden ist eine sehr schön illustrierte Geschichte, die trotz der Schwere hoffnungsvoll ist. Eine Geschichte, die zum weiterlesen und weiterdenken anregt. Der 13 jährige Algis wird mit seiner Schwester, Mutter und Tante und einigen Nachbar*innen ebenfalls nach Sibirien gebracht. Harte Arbeit und wenig zu Essen machen ihnen schwer zu schaffen. Hoffnung macht ihnen das Singen, die Apfelkerne, die zu kleinen Pflänzchen hinter dem Ofen gedeihen oder der Ganter Martin, der als Geist ihre Briefe in die alte Heimat schickt. Die Zeichnungen sind wunderschön und laden zum Betrachten und Eintauchen ein. Es ist sehr divers und lebhaft gestaltet. Gute Unterhaltung mit tiefgehendem Inhalt. Auch für Kinder und Jugendliche gut geeignet.

Rezension Nr. 1

Elif Shafak – Ehre,
Kein&Aber, ISBN: 978-3-0369-5932-0
Und dann ist das Buch zu Ende. Es hat zuletzt noch eine Wendung genommen, die so ganz und gar nicht absehbar war. Die letzte Seite ist fertig gelesen und was ist mit den Figuren? Die Personen, die Dich zuletzt begleitet haben – nun geht Dein Alltag ohne sie weiter. Elif Shafak hat es geschafft, ihre Figuren in mein Leben zu platzieren. Beim Busfahren dachte ich darüber nach, wie es Pembe wohl weiter ergeht. Ob es Adem doch noch schafft die Kurve zu kriegen? Der Roman ist mit seinen 525 Seiten nicht gerade dünn und doch ging es schnell einzutauchen und bei der letzten Seite anzukommen. Und darüber traurig zu sein, dass die Geschichte fertig war.  Wie kommt es zu einem sogenannten „Ehrenmord“? Wen bewegt was und aus welchen Gründen zu so einer Handlung? Elif Shafak erzählt eine Familiengeschichte, die genau so passiert sein könnte und wahrscheinlich sehr ähnlich dutzende Male geschehen ist. Die Geschichte wandert mit den Hauptfiguren vom ländlichen Kurdistan nach London. Welcher Teil der eigenen Geschichte kommt mit? Was passiert in Familien, die migrieren?  Es ist ein schöner und tragischer Einblick in eine solche Familie. Eine Familie, die einen Traum hatte und doch zerrissen wurde.  Auf dem Buchrücken steht: ein bewegender Roman über Hoffnung und Verlust, Vertrauen und Verrat, Liebe und Ehre. Viel mehr bleibt nicht zu sagen.


Viel Spass beim Lesen!
Deine Lotte

Hey Welt, was geht?

Sind ja schon merkwürdige Zeiten gerade. Abstand halten hier und Maske tragen da; sich real treffen, nein eher nicht und wenn dann, wo überhaupt? Die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Gepflogenheiten werden neu gemischt und kein Ende in Sicht. Das aktiv gelebte Desinteresse an den weltweiten Zusammenhängen hat es in unserer Wohlstandsgesellschaft zur Zeit nicht leicht, jetzt sind wir hier selbst betroffen und müssen uns einschränken, das geht ja gar nicht. Viel Spielraum für Verschwörungsmythen. Das Wort Solidarität scheint zwar wieder mehr Bedeutung in der breiten Bevölkerung bekommen zu haben, wobei ihre direkten Gegenspieler ihr versuchen den Platz streitig zu machen – der Egoismus und die Ignoranz. Pathos mag dem Populismus nichts entgegenzuhalten, dies ist jedoch auch kein politisches Manifest oder eine wissenschaftliche Abhandlung, nein, dies ist schlicht eine Ankündigung.
Raus aus der Bubble, rein in den selbstkritischen Blick über den eigenen Tellerrand und hin zu einem gemeinsamen Miteinandner. Kritische Betrachtung, differenzierte Perspektiven und progressive Utopien, nicht zuletzt dafür steht die kämpferische Bibliothek Lotte mit ihren Ideen und Plänen.
Wann, wenn nicht jetzt, ist die beste Zeit, sich wieder mehr dem geschriebenen Wort zu widmen? Doch welches Thema drängt am ehesten, welches Buch bringt einen Themenkomplex am besten auf den Punkt, welche Lyrik schafft es mich aus der Tristesse zu holen, welche Poesie stichelt meine Ideen an oder welche Biographie erschüttert mich und gibt meinem kämpferischen Willen neuen Schub? Schwierig sich in dem Potpourri an Lektüren zurecht zu finden. Doch wir wären nicht die Lotte, wenn wir da nicht Abhilfe schaffen könnten. DIE REZENSION. Keine Neuerfindung, aber ein probates Mittel, um seinen ausgewählten Lesestoff in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Wir werden ab sofort in regelmässigen Abständen auf dem Backbord Mailverteiler und auf unserer Homepage ein von uns erkorenes Buch rezensieren und versuchen, Dein Interesse zu wecken. Also los gehts, unsere neue Rubrik:

DIE REZENSION.