JUBILÄUMSAUSGABE: 1 Jahr Lotte- Rezensionen :)

Heute haben wir die 27. Rezension für euch.
1 Jahr mit spannenden Büchern und Rezensionen liegen hinter uns. Wir hoffen, wir konnten euch Lust auf das ein oder andere Buch machen.

Für die Jubiläumsausgabe gibt es heute eine ausführlichere Rezension, viel Spass beim Lesen!

Nick Montgomery and carla bergman 
Joyful Militancy. Building Thriving Resistance in Toxic Times

AK Press – 2017 – 9-781849-352888  

Weshalb scheinen oder sind radikale Bewegungen und Orte manchmal so voller Angst, Scham, Furcht, Selbstgerechtigkeit und Konkurrenzkampf?
Wie ist radikales Handeln möglich, ohne in diese Muster zu verfallen? Diese Fragen stellen sich und vielen anderen Montgomery und bergman. Sie nennen das Phänomen „rigid radicalism“ – vielleicht „starrer Radikalismus“. Erstarrte und toxisches Wege wie Menschen sich zu verhalten haben und Verhaltensnormen, die in soziale Bewegungen Einzug gehalten haben – wie der „korrekte“ Weg des Radikalseins aussieht. In Gesprächen mit Aktivist*innen und Intellektuellen aus vielen verschiedenen politischen Bewegungen (vor allem aus den Amerikas) versuchen die Autor*innen herauszufinden, wie sich der „rigid radicalism“ in die Bewegungen schleicht und wie Menschen ihn wieder loswerden können. 

So viel zum Klappentext. 
Interviewpartner*innen sind Silvia Federici, adrienne maree brown, Marina Sitrin, Gustavo Esteva, Leanne Betasamosake Simpson, Walidah Imarisha, Margaret Kolljoy, Glen Coulthard, Richard Day und weitere.  Es ist wichtig, sie zu nennen.

Damit wird schon sichtbar, aus welchen Bereichen Wissen in dieses Buch fliesst. Und so stellt sich gleich die erste Frage:
Wie ist damit umzugehen, dass Wissen, das in grossen Teilen in Schwarzen, PoC und Native Gemeinschaften und Kollektiven erarbeitet wurde, von zwei weissen Autor*innen unter ihrem Namen in einem Buch veröffentlich wird? Hätte es andere Möglichkeiten gegeben, als dass sie mit ihrem Namen dieses Wissen teilen und damit privatisieren? Die Autor*innen nennen alle ihre Gesprächspartner*innen beim Namen und arbeiten sehr transparent. Und doch ist es schwierig, wie diese Sammlung und Aneignung einzuordnen ist. Wäre es eine Möglichkeit gewesen, alle Namen auf dem Cover zu nennen, so wie es bei anderen Sammelbänden der Fall ist? Und damit zu verdeutlichen, woher die Inhalte stammen, die sich im Buch finden? Wie sonst wäre ein sensibler Umgang mit Wissen aus Schwarzen, PoC und Native Communities möglich? 

Zu den Inhalten
Das Buch ist aufgeteilt in ein langes Vorwort von Hari Alluri, zwei weitere Einführungen der Autor*innen, 5 Kapitel, einem Outro und 3 Zusätzen, von denen zwei ausführliche Interviews sind.Die Kapitel sind nach Inhalten sortiert: 

1. als Grundlage „Empire, Militanz und Joy“
2. „Freund*innenschaft, Freiheit, Ethik und Verbindung (Affinity)“
3. „Vertrauen und Verantwortung als gemeinsame Grundgedanken (common notions)“
4. „Stickige Luft, Burnout, Politische Performance“
5. „Rigid Radicalism abbauen, Joy aktivieren“ 

Der Aufbau ist gut gelungen, zunächst wird der Boden geschaffen. Die zugrundeliegende Definition von „Joy“ wird sehr gut erklärt. Joy ist demnach nicht einfach mit „Freude“ oder „Spass“ zu übersetzen. Joy setzt nach Spinoza viel tiefer an. Es entsteht durch die Ent-deckung der eigenen Kapazitäten und ist als Prozess der transformativ, gefährlich, schmerzhaft und mächtig aber auch leicht vergänglich ist zu verstehen. Durch Joy werden Menschen empowert und lebendiger, ihre eigenen Kapazitäten werden gestärkt. Joy zu leben funktioniert jedoch nicht als abgetrenntes Individuum sondern nur indem Menschen sich in enge Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt begeben, Gefühle und gemeinsame Kraft nähren. Während „Freude“ oder „Spass“ als Anästhetikum fungieren, vermag Joy das Gegenteil zu bewirken. Joy kann entstehen, wenn sich eine Gruppe von Menschen gemeinsam Dinge aneignet und jede Person spürt wie ihre Kapazitäten und die ihrer Mitmenschen wachsen. Es wächst, wenn wir uns mit Situationen auseinandersetzen und unser Handeln damit übereinstimmt was in diesem Moment nötig und sinnvoll ist. Joy lebt aus situativen Entscheidungen und Handlungen und wird verhindert sobald es starre Vorgaben gibt, was „richtig“ und was „falsch“ ist.   

Auf dieser Grundlage baut das Buch auf. Und in Verbindung mit Militanz? Militanz wird als Wille zum Kämpfen verstanden. Dies schliesst persönliche innere Kämpfe und Auseinandersetzungen innerhalb der Community ebenso ein wie der Kampf gegen Unterdrückung und das Empire. 
Joyful Militancy soll Kämpfe UND Care beleben, Streitlust UND Zärtlichkeit. Die Dichotomien, die uns „Empire“ gelehrt hat, dass die Welt im Schwarz-Weiss Modus zu betrachten ist, sollen verlernt werden. Graustufen sollen zugelassen und erlernt werden. „Negative“ und „positive“ Erfahrungen und Gefühle können und dürfen nebeneinander Platz haben.Dabei ist es wichtig, dass das Konzept von Militanz als „empowernd“ und belebend kämpferisch verstanden wird. Es sollen keine Selbstaufgabe oder Handlungen stattfinden, die gegen die eigenen Bedürfnisse, Potentiale und Wünsche gehen.
Es ist kein ideologisches Einmaleins oder eine Idee von einer erleuchteten Vorhut (weisser) Männer, die im Gegensatz zu allen anderen Menschen klar sehen. Es kommt aus jedem einzelnen Kampf von Menschen, die sich „Empire“ nicht beugen wollen. Menschen die kämpfen und widerständig sind und dabei in engem Kontakt mit ihren eigenen Fähigkeiten stehen. So zum Beispiel Indigene, die sich konstant weigern, ihre Lebensweise „Empire“ anzupassen.  

„Empire ist der Name für die organisierte Kathastrophe, in der wir heute leben.“ Empire wird im Buch das genannt, was gemeinhin als Staat, Machtstrukturen oder System bezeichnet wird. Dieses Empire durchdringt jedoch unser gesamtes Leben, so auch die Beziehungsformen von Menschen untereinander. Empire eignet sich unsere Beziehungen an und definiert sie nach kapitalistisch- patriarchalen- rassistischen Strukturen um. Unsere Aufgabe ist es, sie sich wieder anzueignen und selbst zu definieren. 

Durch das neue Definieren und Leben solcher Beziehungen im Hier und Jetzt wird ein Gegenstandpunkt zu Empire erschaffen. Es wird die Revolution in der fernen Zukunft nicht geben. Die Revolution findet in diesen veränderten Handlungen, Formen von Beziehungen und Bezugnahme im Hier und Jetzt statt.
Auf welche Weise können Beziehungen gestärkt werden? Wenn eine Starrheit Einzug gehalten hat, wie kann dies verändert werden? Wie ist es möglich mit Unsicherheiten umzugehen? Wie kann „joyful“ experimentiert werden?  

Anhand vieler Beispiele und Zitate widmen sich die Autor*innen diesen und vielen weiteren Fragen. Das Buch lädt sehr oft zum Nachdenken ein. Zum Abgleich mit eigenen Erfahrungen. Erlebe ich die radikalen Räume, in denen ich mich bewege, auch als starr oder sind sie empowernd? Erlebe ich sie als safer spaces für mich, sind sie aber das Gegenteil für andere? Wie einladend und offen sind sie? Wem vertrauen wir? Weshalb? 

Weitere Inhalte sind (weisse) Anspruchshaltung, Privilegien, response- ability- die Fähigkeit wirklich auf eine andere Person zu re- agieren, Care für sich selbst und andere auch in Zeiten von Schmerz, Gewalt und Verletzungen, call out culture- wie mit Kritik umgehen, Vertrauen und viele mehr.  

Das Buch ist keine Anleitung, wie Orte und Beziehungen joyful gemacht werden können. Es ist nicht abgeschlossen und hat auch nicht den Anspruch darauf. Es ist eher eine Werkzeugkiste gepaart mit einem Geschichtenbuch der Erfahrungen. Es gibt den Lesenden Werkzeuge an die Hand, wie bestimmte Muster erkannt werden können, was in bestimmten Situationen Abhilfe geschaffen hat und wie Dinge, Situationen und Beziehungen auch (anders) betrachtet werden können.„I’ve made it a principle not to induldge in speech that is destructive. The notion of stressing potential rather then limits.“

Und immer wieder betonen die Autor*innen wie wichtig es ist, „joyful militancy“ nicht zu einem starren Konzept zu machen oder das Buch als Anleitung „how to …“ zu sehen. Das hätte genau den gegenteiligen Effekt und „militancy“ stünde ganz bald wieder ohne „joyful“ da. Was joyful ist ist fluide. Und so sind es auch Beziehungen. Das macht ein regelmässiges „call in“ nötig. Ein regelmässiges hinhorchen, fühlen. Ist es OK so wie es jetzt ist? Wünsche ich mir etwas anders? Das ist anstrengend. Aber auch sehr befreiend! 

„Joyful militancy“ ist absolut lesenswert, empowernd und dazu geeignet, immer wieder gelesen zu werden. Nur wenn bestimmte Handlungsmuster durchbrochen werden, können wir unsere Beziehungen und unser Sein joyful gestalten. In diesem Sinne ein absolutes „must read“! 

Das Buch ist nur auf Englisch verfügbar.