Rezension # 32

Peter Linebaugh & Marcus Rediker – Die vielköpfige Hydra – Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks
Sachbuch – Assoziation A – 2000, 2. Auflage 2022 – ISBN 978-3-935936-65-1

Dieses Werk lässt eine:n erst einmal sprachlos zurück, wenn die letzten Seiten umgeschlagen und die Danksagungen von Linebaugh und Rediker zu Ende sind.

Die beiden widmen sich auf diesen dichten, fast 400 Seiten der Geschichte der atlantischen Kolonisation und mehr noch den Widerständen dagegen. Im Mittelpunkt steht das britische Empire, von dem ausgehend die Kolonisation und der Aufstieg des frühen Kapitalismus forciert wurde. Dieses Buch behandelt in diesem zeitlichen Rahmen (frühes 17. Jh. bis zum beginnenden 19. Jh.) aber vor allem die Geschichte(n) der Enteigneten Europas, Afrikas und der Amerikas, der verschleppten, afrikanischen, versklavten Menschen, des städtischen, europäischen Proletariats, sowie der Natives in den Amerikas.

Von ihnen ging eine revoltierende Kraft gegen die überbordende Gewalt aus, die in der Standardgeschichtsschreibung nur am Rande Erwähnung findet. Dieses Werk zeigt die kooperativen Formen der Widerständigkeiten auf, bei der Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht keine bestimmende Rolle spielten.

Das Buch ist gut strukturiert, beginnend mit einem Schiffbruch im Jahre 1609, der bezeichnend war für die Kraft des Widerstands. Des Weiteren wird der historische Rahmen bestimmt. Die Begrifflichkeiten der Holzhauers und Wasserträgers werden in Kontext gesetzt, ebenso wie der politische Hintergrund der Einhegungen in Britannien.

Jedes Kapitel ist in verständliche Unterkapitel eingeteilt, die hin und wieder eine Reise rund um den Atlantik machen und sich eines bestimmten Themas von den unterschiedlichen (räumlichen) Perspektiven annähern.

Diese grossartige Recherchearbeit verdient ein riesiges Lob. Es ist unglaublich, was Linebaugh und Rediker alles zitieren, erzählen und wiedergeben. Es sind kleine und grosse Aktionen, Kämpfe und Widerstände. Es ist eine Geschichtsschreibung, die nur selten Gehör findet und doch eine grosse Kraft entwickelt, je mehr mensch in sie eintaucht. Ja, es gab immer schon Menschen, die die Herrschaftsstrukturen nicht einfach hingenommen und sich ihnen widersetzt haben.

Und nun stecke ich in einer Zwickmühle.

Inhaltlich ist das Buch grossartig. Es ist die Gegengeschichte zu Pirates of the Carribean oder Winnetou. Es sind all die gesammelten Geschichten, die es nicht in die Standardgeschichtsschreibung geschafft haben. Und die es unbedingt verdient haben, gehört zu werden.

Und trotzdem bleibt da dieser Zweifel. Was mich inhaltlich zu grossen Teilen überzeugt, ärgert mich sprachlich. Zwei Dinge, die sich durch das Buch ziehen:

Zum Einen das generische Maskulin, das selbst dann Anwendung findet, wenn es z.B. im zweiten Satzteil heisst, dass die „Wasserträger“ fast ausschliesslich Frauen waren. Aber nicht nur da. Sehr selten werden nicht nur die männlichen Bezeichnungen für Menschen verwendet.

Hier würde es mich interessieren, weshalb die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originaltextes so gewählt wurde. Im Englischen sind die Begrifflichkeiten nicht gegendert und daher offen. Weshalb wurde dies bei der Übersetzung nicht beibehalten?

In einem langen Kapitel über Pirat:innen werden Piratinnen in nur 2 Absätzen erwähnt. Alles andere waren ausschliesslich Männer?

Zum Anderen das N- Wort. Mir ist bewusst, dass es sich um eine historische Betrachtung handelt und hier oft alte Texte zitiert wurden. Es bleibt aber Menschen, die Bücher schreiben, trotzdem überlassen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und z.B. zu entscheiden, das N- Wort nicht auszuschreiben, auch wenn es ein Zitat ist. Noch viel schlimmer, und dies ist leider sehr häufig der Fall in diesem Buch, ist es, wenn das N- Wort und andere Wörter, die keine Anwendung mehr finden sollten, in Anführungszeichen gebraucht werden, auch wenn es keine Zitate sind. Auch vor 22 Jahren, als das Buch veröffentlicht wurde, war es schon Konsens, das N- Wort nicht mehr zu verwenden. Wie kommen zwei (von mir als weiss gelesene)US- amerikanische Personen auf die Idee, es in Anführungszeichen weiter zu benutzen? Vor allem, wenn sie selbst Texte aus den 1760ern Jahren zitieren, in denen schon das Wort „Schwarze“ verwendet wurde. Also gab es schon vor mehreren Hundert Jahren Menschen, die sich der Relevanz von Sprache und Bezeichnungen bewusst waren. Es gibt also meiner Ansicht nach keine Argumentation dafür, weiterhin eine Sprache zu verwenden, die diskriminierend und menschenfeindlich ist.

Ein weiterer Punkt, der mir schwer aufgestossen ist, ist die Bezeichnung der Haitianischen Revolution als „Arbeiterrevolution“. Linebaugh und Rediker zeigen immer wieder auf, dass in der Vergangenheit Geschichte unsichtbar gemacht wurde. Auch wenn sie später die Revolution als Kraft von Black Power darstellen, tappen sie mit der Bezeichnung der Haitianischen Revolution als „Arbeiterrevolution“ genau in dieselbe Falle. War Haiti nicht in erster Linie ein Befreiungskampf von (Schwarzen) versklavten Menschen? Diese Fremdbezeichnung ist in meinen Augen nicht nachvollziehbar und ärgert mich.

Und nun?
Meiner Ansicht nach ist mit diesem Buch ein grossartiges Fundament gelegt worden. Etwas pathetisch formuliert ist es vielleicht ein ungeschliffener Diamant, der noch ein bisschen der Arbeit bedarf, bis die wahre Grösse zum Vorschein kommt. Es ist vieles vorhanden, was dieses Werk zu einem ausserordentlichen Geschenk macht, aber eben auch zu einem ausserordentlichen Ärgernis. Dies liesse sich mit einer Überarbeitung ändern. Für die 2. Auflage 2022 wäre genau dies möglich gewesen, leider wurde die Chance nicht ergriffen. Ich würde mir wünschen, dass das Buch sprachlich angepasst wird und somit eine Wertschätzung gegenüber den Nachfahr:innen all der Menschen, die in diesem Buch Erwähnung finden, darstellt.

Herzlichen Dank an Assoziation A für das Rezensionsexemplar. Ihr macht tolle und wichtige Arbeit, danke auch dafür!