Rezension #34

Wu Ming – Die Armee der Schlafwandler

Assoziation A – 2020 – ISBN 978-3-86241-474-1

Das Autor*innenkollektiv Wu Ming widmet sich in diesem Roman einer alternativen Erzählweise zur französischen Revolution, die sich unter anderem der Perspektive des gemeinen Volkes und von Frauen widmet. Der Roman ist mit seinen unterschiedlichen Handlungssträngen dabei sehr vielschichtig und schafft es ein anschauliches und tiefgreifendes Bild dieser Zeit zu schaffen. Dabei verknüpft das Autor*innenkollektiv Fakten und Fiktionen zu einem spannenden Poltit-Thriller, der sich trotz des Umfangs von über 600 Seiten ohne mühsame Langatmigkeit super lesen lässt. Die Story wandert von den Pariser Vororten und den Alltagsrealitäten der dortigen Bevölkerung, über subversive Akten des Theaters und Originaldokumenten aus dem Konvent bis in die Abgründe der französische Provinz und zurück in die Absurditäten Pariser „Heilanstalten“. Der Roman spiegelt dabei die temporeichen Veränderungen jener Zeit mit ihren ständig schwellenden Verschwörungen, Totalitätsansprüchen, gegenrevolutionären Strömungen und der Diskreditierung der Revolution selbst. Ein wirklich spannender Roman der aufgrund seiner politischen Vielschichtigkeit nichts an Aktualität missen lässt, sondern auch als Spiegel zu derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen gelesen werden kann.

Aktuell neue Öffnungszeiten

Aktuell bleibt die Lotte am SAMSTAG GESCHLOSSEN.

Also kommt am Dienstag und Mittwoch zwischen 17-19 Uhr vorbei, damit ihr am Samstag entspannt mit einem Buch an den See fläzen könnt. 😉

Wenn ihr nicht die Möglichkeit habt am Dienstag oder Mittwoch in die Lotte zu kommen und dennoch gerne etwas ausleihen möchtet, dann schreibt uns bitte eine Mail, damit ihr an einem anderen Tag vorbeikommen könnt:

hallo@lotte-bibliothek.org

Beiträge

Rezension # 33

Jan Bachmann – Mühsam – Anarchist in Anführungsstrichen
Edition Moderne – 2018 – ISBN 978 3 037 311 721

Jan Bachmann erzählt in diesem kurzweiligen Comic die Geschichte des jungen deutschen Erich Mühsam, Anarchist und Poet, mit Auszügen aus seinen Tagebüchern.

Die einzelnen Episoden sind dabei ideenreich und unterhaltsam illustriert – die lesende oder vielmehr auch betrachtende Person taucht ein in die Welt des Erich Mühsam, der von Geldsorgen geplagt ist und in den 1910er Jahren aus Gesundheitsgründen in die Schweiz ins Sanatorium muss. Ungläubig, weshalb ausgerechnet er nicht erfolgreich ist mit seiner Poesie. Dabei ist seine wahnwitzige Selbstüberschätzung kaum zu übertreffen – offensichtlich in Kombination mit der freundlichen Selbstironie für Bachmann die ideale Comicfigur, wie dieser am Ende des Buches so schön erklärt.

Während ich am Anfang dachte, dass der Zeichenstil mir etwas zu unaufgeräumt ist, da ich gerne klare Linien und noch klarere Flächen habe, bin ich doch sehr schnell eingetaucht in die farbenfrohen Bilder und die Liebe zu einigen Details. Und dann erst diese Wolken!!! So toll!

Ein wunderbares Buch um einen kleinen Einblick in die Welt des Erich Mühsam zu bekommen. Und dabei immer wieder zu schmunzeln.

Schöne Sonntagabend-auf-dem-Sofa-sitz-Lektüre.

Rezension # 32

Peter Linebaugh & Marcus Rediker – Die vielköpfige Hydra – Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks
Sachbuch – Assoziation A – 2000, 2. Auflage 2022 – ISBN 978-3-935936-65-1

Dieses Werk lässt eine:n erst einmal sprachlos zurück, wenn die letzten Seiten umgeschlagen und die Danksagungen von Linebaugh und Rediker zu Ende sind.

Die beiden widmen sich auf diesen dichten, fast 400 Seiten der Geschichte der atlantischen Kolonisation und mehr noch den Widerständen dagegen. Im Mittelpunkt steht das britische Empire, von dem ausgehend die Kolonisation und der Aufstieg des frühen Kapitalismus forciert wurde. Dieses Buch behandelt in diesem zeitlichen Rahmen (frühes 17. Jh. bis zum beginnenden 19. Jh.) aber vor allem die Geschichte(n) der Enteigneten Europas, Afrikas und der Amerikas, der verschleppten, afrikanischen, versklavten Menschen, des städtischen, europäischen Proletariats, sowie der Natives in den Amerikas.

Von ihnen ging eine revoltierende Kraft gegen die überbordende Gewalt aus, die in der Standardgeschichtsschreibung nur am Rande Erwähnung findet. Dieses Werk zeigt die kooperativen Formen der Widerständigkeiten auf, bei der Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht keine bestimmende Rolle spielten.

Das Buch ist gut strukturiert, beginnend mit einem Schiffbruch im Jahre 1609, der bezeichnend war für die Kraft des Widerstands. Des Weiteren wird der historische Rahmen bestimmt. Die Begrifflichkeiten der Holzhauers und Wasserträgers werden in Kontext gesetzt, ebenso wie der politische Hintergrund der Einhegungen in Britannien.

Jedes Kapitel ist in verständliche Unterkapitel eingeteilt, die hin und wieder eine Reise rund um den Atlantik machen und sich eines bestimmten Themas von den unterschiedlichen (räumlichen) Perspektiven annähern.

Diese grossartige Recherchearbeit verdient ein riesiges Lob. Es ist unglaublich, was Linebaugh und Rediker alles zitieren, erzählen und wiedergeben. Es sind kleine und grosse Aktionen, Kämpfe und Widerstände. Es ist eine Geschichtsschreibung, die nur selten Gehör findet und doch eine grosse Kraft entwickelt, je mehr mensch in sie eintaucht. Ja, es gab immer schon Menschen, die die Herrschaftsstrukturen nicht einfach hingenommen und sich ihnen widersetzt haben.

Und nun stecke ich in einer Zwickmühle.

Inhaltlich ist das Buch grossartig. Es ist die Gegengeschichte zu Pirates of the Carribean oder Winnetou. Es sind all die gesammelten Geschichten, die es nicht in die Standardgeschichtsschreibung geschafft haben. Und die es unbedingt verdient haben, gehört zu werden.

Und trotzdem bleibt da dieser Zweifel. Was mich inhaltlich zu grossen Teilen überzeugt, ärgert mich sprachlich. Zwei Dinge, die sich durch das Buch ziehen:

Zum Einen das generische Maskulin, das selbst dann Anwendung findet, wenn es z.B. im zweiten Satzteil heisst, dass die „Wasserträger“ fast ausschliesslich Frauen waren. Aber nicht nur da. Sehr selten werden nicht nur die männlichen Bezeichnungen für Menschen verwendet.

Hier würde es mich interessieren, weshalb die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originaltextes so gewählt wurde. Im Englischen sind die Begrifflichkeiten nicht gegendert und daher offen. Weshalb wurde dies bei der Übersetzung nicht beibehalten?

In einem langen Kapitel über Pirat:innen werden Piratinnen in nur 2 Absätzen erwähnt. Alles andere waren ausschliesslich Männer?

Zum Anderen das N- Wort. Mir ist bewusst, dass es sich um eine historische Betrachtung handelt und hier oft alte Texte zitiert wurden. Es bleibt aber Menschen, die Bücher schreiben, trotzdem überlassen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und z.B. zu entscheiden, das N- Wort nicht auszuschreiben, auch wenn es ein Zitat ist. Noch viel schlimmer, und dies ist leider sehr häufig der Fall in diesem Buch, ist es, wenn das N- Wort und andere Wörter, die keine Anwendung mehr finden sollten, in Anführungszeichen gebraucht werden, auch wenn es keine Zitate sind. Auch vor 22 Jahren, als das Buch veröffentlicht wurde, war es schon Konsens, das N- Wort nicht mehr zu verwenden. Wie kommen zwei (von mir als weiss gelesene)US- amerikanische Personen auf die Idee, es in Anführungszeichen weiter zu benutzen? Vor allem, wenn sie selbst Texte aus den 1760ern Jahren zitieren, in denen schon das Wort „Schwarze“ verwendet wurde. Also gab es schon vor mehreren Hundert Jahren Menschen, die sich der Relevanz von Sprache und Bezeichnungen bewusst waren. Es gibt also meiner Ansicht nach keine Argumentation dafür, weiterhin eine Sprache zu verwenden, die diskriminierend und menschenfeindlich ist.

Ein weiterer Punkt, der mir schwer aufgestossen ist, ist die Bezeichnung der Haitianischen Revolution als „Arbeiterrevolution“. Linebaugh und Rediker zeigen immer wieder auf, dass in der Vergangenheit Geschichte unsichtbar gemacht wurde. Auch wenn sie später die Revolution als Kraft von Black Power darstellen, tappen sie mit der Bezeichnung der Haitianischen Revolution als „Arbeiterrevolution“ genau in dieselbe Falle. War Haiti nicht in erster Linie ein Befreiungskampf von (Schwarzen) versklavten Menschen? Diese Fremdbezeichnung ist in meinen Augen nicht nachvollziehbar und ärgert mich.

Und nun?
Meiner Ansicht nach ist mit diesem Buch ein grossartiges Fundament gelegt worden. Etwas pathetisch formuliert ist es vielleicht ein ungeschliffener Diamant, der noch ein bisschen der Arbeit bedarf, bis die wahre Grösse zum Vorschein kommt. Es ist vieles vorhanden, was dieses Werk zu einem ausserordentlichen Geschenk macht, aber eben auch zu einem ausserordentlichen Ärgernis. Dies liesse sich mit einer Überarbeitung ändern. Für die 2. Auflage 2022 wäre genau dies möglich gewesen, leider wurde die Chance nicht ergriffen. Ich würde mir wünschen, dass das Buch sprachlich angepasst wird und somit eine Wertschätzung gegenüber den Nachfahr:innen all der Menschen, die in diesem Buch Erwähnung finden, darstellt.

Herzlichen Dank an Assoziation A für das Rezensionsexemplar. Ihr macht tolle und wichtige Arbeit, danke auch dafür!

Buchwoche zu Amitav Goshs ‚The Nutmeg’s Curse‘



Vom 22. – 29. Oktober 2022 findet eine Buchwoche zu ‚The Nutmeg’s Curse. Parables for a Planet in Crisis‘ von Amitav Gosh statt.

Anmelden bis am 11. September an: geschichteverlernen@immerda.ch

Infos zu bereits stattgefundenen Buchwochen -> QR Code scannen.

Kommst du auch? Wir freuen uns auf dich!

Rezension # 31

Sabine Bade / Wolfram Mikuteit – Partisanenpfade im Piemont
Sachbuch -Querwege – 2012 – ISBN 978-3-941585-05-8

Wandern, Reisen und Geschichte(n) (vor)lesen. Eine wunderbare Kombination. Schon lange wollte ich dieses Buch packen und mich damit im Piemont auf den Weg machen. Geschichten lesen, Geschichte lernen, mich dazu bewegen und vor Ort sein, an Orten sein, wo widerständige Geschichte gemacht wurde.
Partisanenpfade im Piemont ist ein Buch, das einführt in die Welt der piemontesischen Alpentäler. Und die Resistenza. So haben wir uns zBsp. auf den Weg gemacht ein Spital der Partisan:innen, das jetzt eine Ruine ist, auf knapp 2400 Höhenmetern zu besuchen. Oder ein Ausguck der Partisan:innen, von dem aus sie die beiden umliegenden Täler stets im Blick hatten. Heute ein Rifugio.
Die Wanderungen, die wir gemacht haben, sind gut im Buch beschrieben und dazu vor Ort sehr gut ausgeschildert. Zwischendurch gibt es immer wieder Geschichten und allgemeine Erklärungen, zBsp. zu Kesselrings „Bandenbekämpfung“, was X-Mas bedeutet, wie der bewaffnete Widerstand aufgebaut war und vieles mehr. Sehr spannend!
Allgemein sind die Touren jedoch über einen sehr grossen Bereich der piemontesischen Alpen verteilt, dass mensch wirklich viel Zeit und gute Wetterbedingungen braucht, um eine grosse Anzahl der Touren machen zu können. Mit beidem waren wir nicht so gesegnet. Aber auch so hat es sich gelohnt, auf die Spuren der italienischen Resistenza zu gehen und eine traumhafte Gegend kennenzulernen, in die es uns sonst wahrscheinlich nicht verschlagen hätte.
Wer also ein bisschen Zeit hat: Wanderschuhe einpacken und in den Süden aufmachen!
Und wer nur ein bisschen träumen will, auch das geht gut. Es ist auch einfach ein gutes Geschichtsbuch!

Lotte ist umgezogen!

Ab heute, Montag 25.04.2022, Mittag steht die Lotte am der Industriestrasse 9, in Luzern.

Bis auf weiteres haben wir regulär geöffnet:
Di und Mi 17-19 Uhr
Sa 11-15 Uhr

Wie lange wir an der Industriestrasse bleiben ist noch nicht klar. Wir halten euch weiterhin auf dem laufenden.

Bücherrückgabe bitte nur direkt bei der Lotte oder Paketkasten an der Industriestrasse 9.

Kommt vorbei!

Lotte muss zügeln!

Hallo zusammen

Leider muss die Lotte-Bibliothek nächste Woche zügeln.

Die Stadt hat uns ziemlich kurzfristig darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Wagen nicht mehr länger beim RäZel stehen darf. Wir versuchen nun mit der Stadt Kontakt aufzunehmen, haben uns aber entschieden vorerst die Lotte wegzufahren.

Ihr hört von uns, sobald wir wissen, wohin der Wagen kommt und wie es weiter geht.
Falls ihr von möglichen Orten wisst, wo die Lotte hingestellt werden könnte, gerne melden!

Bis dahin sind wir froh, wenn ihr die fertig gelesenen Bücher noch diese Woche zurück bringt (offen heute Mittwoch 17- 19 Uhr, Samstag 11-15 Uhr oder per Rückgabekasten aussen am Wagen). A
Ab dem 25. April könnt ihr sie dann in den Briefkasten an der Industriestr. 9 zurückgeben (Klappe rechts neben der Türe).

Hoffentlich auf bald wieder in der Lotte – vielleicht beim RäZel, vielleicht woanders

Kämpferische Grüsse

eure Lotte

DIESEN SONNTAG, 24.4.22, 18.00. LESUNG IM HelloWelcome

Diskussion und Lesung: „Die Würde des Menschen ist Abschiebbar“

Lina Droste, Oumar Mamabarkindo, Sebastian Nitschke und /Community for all/ sind Autorinnen des gerade bei Edition Assemblage erschienenen Buches „Die Würde des Menschen ist Abschiebbar“. Das Buch vereint politischen Bericht und Wissenschaft. Im Rahmen des politischen Aktivismus der Autorinnen gegen die Abschiebegefängnisse in Büren und Darmstadt entstanden Texte zu Haftbedingungen, Gerichtsakten, Isolationshaft sowie Erfahrungsberichte, Portraits und Gespräche mit Inhaftierten über ihre Ausschusserfahrungen in Deutschland und ihren Herkunftsländern.

Eingeleitet wird das Buch mit einer historischen Einordnung der Institution Abschiebehaft und dem aktuellen rechtlichen Rahmen. Somit dient es auch als eine Einführung in die Thematik Abschiebehaft. Es gibt Antworten auf die Fragen: Was ist und war Abschiebehaft? Wer ist davon betroffen? Wie verläuft der institutionelle Prozess der Abschiebehaft?

Sebastian Nitschke wird kurze Passagen aus dem Buch lesen und diese im Anschluss mit dem Publikum diskutieren. Er ist Sozialarbeiter und engagierte sich von 2017 bis 2020 bei „Community for all – Solidarische Gemeinschaft statt Abschiebegefängnisse“ in Darmstadt.

Die Veranstaltung findet auf deutsch statt.

Wir freuen uns auf Euch!

Rezension #30

Tommy Orange – Dort, dort

ISBN 978-3-446-26413-7 – 2019 – Hanser Verlag

Tommy Orange erzählt in diesem schnelllebigen und spannenden Roman in einprägsamen Bildern über die gesellschaftlichen Bedingungen und Zustände der Native American-Community, der die*der Autor*in sich selbst als zugehörig beschreibt. Anhand von zwölf Protagonist*innen verdeutlicht Tommy Orange die biographische Herausforderungen von Native Americans über drei Generationen die geprägt sind von Ausschluss, Diskriminierung und Unterdrückung in einer weissen Mehrheitsgesellschaft. Die Protagonist*innen sind über diverse und z.T. absurde Handlungsstränge miteinander verbunden, die die*der Autor*in über den Roman immer mehr verknüpft und zu einem tragischen wie fulminanten Höhepunkt des Buches führt.

Dabei schafft es die*der Autor*in die Protagonist*innen trotz des realen Scheiterns als selbstbewusst und stark darzustellen. Dies ist der grösste Gewinn des Buches und trägt zum Empowerment der Native Americans bei, deren Stimme immer noch kaum gehört wird und im literarischen Bereich nahezu unsichtbar bleibt.

Der Roman ist dabei leicht und gut verständlich zu lesen und ist durch seine Kurzatmigkeit und Spannung auch für Jugendliche geeignet.