Rezension Nr. 47

Yu Pei-yun und Zhou Jian-xin – Tsai Kun-Lin, Der Junge, der gerne las

Graphic Novel aus Taiwan – Baobab Books – 2023 – ISBN 9783907277171

Ich wusste es schon, bevor ich das Buch angefangen habe zu lesen: es ist der 1. Band einer vierteiligen Serie, Band 2 und 3 sollen im Herbst 2023 erscheinen, Band 4 im Jahr 2024. Und doch bin ich wieder «reingefallen»- natürlich wollte ich unbedingt wissen, wie es weitergeht. Es ist wie eine Serie, die mensch nicht zu Ende schauen kann. Die Spannung bleibt. So muss ich mich also gedulden, bis die nächsten Bände erscheinen. Schwierig… 😉

Aber erstmal von vorne.

Yu Pei-yun und Zhou Jian-xin sind die beiden Autor:innen/ Zeichner:innen dieser Graphic Novel aus Taiwan. Sie erzählen die Geschichte von Tsai Kun- Lin, geboren in eine taiwanische Familie im Jahr 1930. Zu diesem Zeitpunkt war Taiwan schon über 30 Jahre japanische Kolonie. Im Alter von 5 Jahren überlebt er ein schweres Erdbeben, das einen Grossteil der Insel und das Haus der Familie Tsai zerstört. Einige Jahre später macht auch der 2. Weltkrieg nicht halt vor der Insel, die immer wieder Schauplatz der imperialistischen Mächte wurde. Wieder ergreift ein fremdes Regime die Macht auf der Insel. Und nun kommt es zum Höhepunkt dieses Bandes, der den Spannungsbogen hoch hält und die Lesenden in grosser Erwartung der nächsten Bände zurück lässt.

Die Biographie ist sehr sensibel und wunderschön erzählt. Das Buch ist in Grautönen und Rosa gehalten, zurückhaltende Farbgebung mit grossem Feingespür für die Momente zwischen den Zeilen. Die Zeichnungen sind Kunstwerke, die zum Träumen und Anschauen einladen. Die Seiten kreativ und stimmig choreographiert. Die Schwierigkeit, die drei Sprachen, die im Buch gesprochen werden, auch im Deutschen darzustellen, wurde durch unterschiedliche Schriftfarben gut gelöst.

Ich hab das Buch ausgepackt und wollte nur kurz rein schauen – schon war ich gefangen in dieser Welt vor fast 100 Jahren am anderen Ende der Welt, von der hier so wenig Geschichte bekannt ist. Mich hat das Buch auf vielen Ebenen fasziniert: Die Gestaltung und die Zeichnungen sind wunderschön und haben mich tief berührt, die Übergänge zwischen den einzelnen Bildern sind sehr gelungen. Aber auch die Art, wie die Geschichte erzählt wird, erschwert es, das Buch vor dessen Ende aus der Hand zu legen. Mich hat es dazu gebracht, die Geschichte der Region zu recherchieren – die Idee von Baobab Books hat sich also mal wieder erfüllt.

Der Verlag Baobab Books hat sich darauf spezialisiert Bilderbücher, Kindergeschichten und Jugendromane aus aller Welt in deutscher Übersetzung zu verlegen, zur Förderung kultureller Vielfalt in der Kinder- und Jugendliteratur. Mit diesem Schmuckstück aus Taiwan haben sie einmal mehr ihr gutes Gespür bewiesen, spannende und in diesem Fall auch wunderschöne Literatur aus einem Land, das in unseren Büchergestellen nicht grossflächig repräsentiert ist, im deutschsprachigen Raum sichtbar zu machen. Ein herzliches Dankeschön für diese tolle und wichtige Arbeit. Das Buch kann ich nur empfehlen und ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht :).

Kurze Vorschau: Band 2 soll im Herbst 2023 erscheinen, Band 3 2024 🙂

Rezension Nr. 46

Taiye Selasi – Ghana must go
Roman – Penguin Fiction – 2013 – ISBN 978-0-670-91988-8

Das Buch ist auf Englisch in der Lotte verfügbar.

Selasi erzählt die Familiengeschichte der Sais, einer nigerianisch – ghanaischen Familie, die in den USA lebt. Durch eine Ungerechtigkeit und Scham wird sie auseinander gerissen, über den Erdball verteilt und erst durch den Tod des Vater, viele Jahre später, wieder zusammen gebracht. Die zerrissenen Strukturen, die die Familie über lange Zeit geprägt haben, kommen ans Licht und die Frage ist, ob Heilung möglich ist.

Der Plot ist nicht aussergewöhnlich. Selasi erzählt eine bewegte Familiengeschichte von innen und wie die unterschiedlichen Charaktere mit den Herausforderungen des Lebens und ihrer persönlichen Geschichte umgehen. Dabei springt sie erzählerisch zwischen den Familienmitgliedern hin und her, sodass in die Gedankenwelt der einzelnen Protagonist:innen eingetaucht werden kann.

Das Buch hat mich nur zu 98% gepackt, da mich der literarische Schreibstil manchmal von der Geschichte ferngehalten hat. Und doch bin ich voll in die Geschichte um Olu, Taiwo, Kehinde, Sadie und Fola eingetaucht. Selasi schafft es gut, ein Bild einer Familie zu zeichnen, in dem die Geschwister sich für unterschiedliche Lebensentwürfe entscheiden und der Umgang mit der eigenen Herkunft ganz verschieden ist.

Es ist ein scheues: Ja, es lohnt sich dieses Buch zu lesen. Irgendwie spannend, aber ein bisschen Zweifel bzgl. des Schreibstils bleiben. Aber das ist ja bekanntlich
Geschmackssache 🙂

PODIUM: Kolonialismus und Widerstand

Di 27.06.2023 19:30- 21:30
Lotte Bibliothek und Luzern Postkolonial laden ein zur Podiumsdiskussion mit

Ruveni Wijesekera, Sozialanthropologin
Dr. des. Claudia Wilopo, Kulturwissenschaftlerin
Angie Addo, antirassistische Aktivistin
Dr. Manuel Menrath, Historiker

Kolonialismus schuf und festigte über Jahrhunderte eine globale Dominanz des sogenannten „Westens“. Die Schweiz spielte dabei als motivierte Komplizin gerne mit. Koloniale Herrschaft wurde aber von Beginn an nicht einfach erduldet und ertragen. Es gibt eine lange Geschichte der Widerstände dagegen.
In der Podiumsdiskussion „Kolonialismus und Widerstand“ diskutieren Expert:innen aus Wissenschaft und Gesellschaft über die Durchsetzung der kolonialen Herrschaft und Formen des Widerstands bis heute.

Bei schönem Wetter bei der Buvette, ansonsten in der Shedhalle.

Eintritt: Kollekte
Sprache: Deutsch
Rollstuhlgängig

COMIC Lesung mit Vinz Schwarzbauer: „MÄANDER“

6.6.23 – 19 Uhr – Figurentheater, Industriestrasse 9, Luzern
Eintritt: Kollekte
Sprache: Deutsch
Barrieren: Der Eingang hat mehrere Stufen. Kontaktiere uns gerne unter hallo@lotte-bibliothek.org um zusammen eine Lösung zu finden.

«In seinem bewegenden Début erzählt Vinz Schwarzbauer, was es bedeutet, als Minderheit in einem fremden Land aufzuwachsen. Die Grossmutter des Autors fand nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 eine neue Heimat in Österreich, ihre Schwester wanderte nach Kanada aus, wo ihr Sohn mit einer indigenen Frau der Anishinabek eine Familie gründete. Der Versuch, sich dort zurechtzu­finden, war mit vielen Irrungen und Wirrungen verbunden, und die Familie, die zwischen verschiedenen Kulturen oszillierte, hatte mit allerlei Vorurteilen zu kämpfen. In Mäander fängt Schwarzbauer diese ungemein vielschichtige Geschichte mit ergrei­fenden und stimmungsvollen Zeichnungen ein. Es sind Bilder, die den Lesenden noch lange in Erinnerung bleiben werden.» — Viken Berberian, Co-Autor von „Marode Substanz, Genosse!“. 

Die Graphic Novel hat zwei Erzählebenen: Eine zeigt die Erinnerungen der drei Hauptfiguren, die der Autor über ihre Fluchterfahrung und ihr Leben in Ungarn und Kanada interviewt. Die zweite Ebene erzählt von der Reise, die der Autor nach Kanada unternimmt, um die Familienbiografie zu rekonstruieren. Die beiden Ebenen unterscheiden sich auch formal. So ist die Suche und Reise des Autors mit Tusche gemalt, die Interview-Episoden hingegen sind aufgerastert, sowie Text und Bild räumlich voneinander getrennt. Damit wird implizit die zeitliche, geografische und inhaltliche Distanz zwischen dem Erlebten, dem Erzählten (Oral History), dem Gehörten und dem Vorgestellten thematisiert.

Vorlesetag wegen Regen ABGESAGT!

Leider müssen wir wegen des Regens den heutigen Vorlesetag absagen. Das macht uns sehr traurig. Aber wir schmieden schon Pläne, wie wir das vielleicht nachholen können. Wir halten euch auf dem Laufenden!

Rezension Nr. 45

Tore Rørbæk, Mikkel Sommer – Shingal. Flucht vor dem Genozid

Comic – bahoe books – 2020 – ISBN 978-3-903290-39-6

Der Comic „Shingal“ von Tore Rørbæk und Mikkel Sommer erzählt die Geschichte von den Brüdern Mazlum und Asmail, die im Sommer 2014 um ihr Leben und das ihrer Familien kämpfen. Zusammen mit tausenden anderen Jesid*innen fliehen sie vor dem Islamischen Staat (IS) auf den Berg Shingal. Über 50‘000 Menschen harren schliesslich auf dem Berg unter freiem Himmel aus, bei Temperaturen bis zu 50 Grad, ohne Wasser, ohne Schatten.

Das Buch erzählt die Geschichte des Genozids an den Jesid*innen, begangen durch den IS im Sommer 2014 auf irakischem Staatsgebiet. Es ist der bislang einzige von der UNO anerkannte Genozid im 21. Jahrhundert. Schätzungen zufolge wurden rund 5‘000 Menschen ermordet, zwischen 6‘000 und 7‘000 Frauen und Kinder entführt und rund 400‘000 Menschen vertrieben.

„Shingal“ erzählt diese grauenhafte und traurige Geschichte mit eindrucksvollen Bildern in satter Farbe. Am Schluss des Buches findet sich ein Nachwort von Thomas Schmidiger, in diesem finden sich noch zusätzliche Informationen zum Genozid, zur jesidischen Religion, zu antijesidischen Ressentiments, sowie ein kurzer Abschnitt zu Jesid*innen in Europa.

Und wie es auch in eben diesem Nachwort heisst: „Diese Geschichte muss […] erzählt werden, nicht nur um sie nicht zu vergessen, sondern auch, weil für die Überlebenden ihre Qualen bis heute andauern. Nur ein Teil der Vertriebenen konnte bislang in ihre Heimat zurückkehren. […] Möge diese […] Graphic Novel von Tore Rørbæk und Mikkel Sommer dazu beitragen, dass die Verfolgungsgeschichte der Jesid[*inn]en auch im deutschsprachigen Raum einem grösseren Publikum nahe gebracht wird.“


PODIUM Kolonialismus und Widerstand

„Luzern postkolonial“ und „Lotte Bibliothek“ laden ein zum Podium

KOLONIALISMUS UND WIDERSTAND

mit
Angie Ado, Dr. Manuel Menrath, Ruveni Wijesekera (Moderation) und Dr. des. Claudia Wilopo.

Mehr Infos folgen bald, schon mal den Abend frei halten!

Dienstag 27.06.23 19:30 Uhr im Südpol
Barrierefrei zugänglich

Lotte und Südpol laden ein zum Vorlesetag am 24.05.

Lotte Bibliothek und Südpol laden ein zum Vorlesetag am 24.05.2023 von 15- 18 Uhr für alle Menschen, aber insbesondere für solche von 4-9 Jahren. Es gibt spannende Bücher auf arabisch, deutsch, englisch, georgisch und portugiesisch. Nur wenn es nicht regnet! Infos dazu auf www.lotte-bibliothek.org oder www.sudpol.ch. Wir freuen uns auf euch! Eintritt frei!

Mehr Infos folgen bald!

https://schweizervorlesetag.ch/de/veranstaltungen/public-detail/2036/?rt=map&zoom=12&lat=47.0341978&lng=8.277255199999999&st=0&et=0&sa=1&ea=16&sn=

Rezension Nr. 44

Susan Abulhawa – Against the loveless world

Roman – Bloomsbury – 2020 – ISBN 978-1-5266-1881-8

Das Buch ist auf Englisch in der Lotte verfügbar.

Die letzte Seite ist fertig gelesen, auch die Acknowledgements, das Buch ist durch, und nun? Es sind da diese Gedanken um die Ich- Erzählerin Nahr, um Bilal, um deren Familien und das Land. Es bleibt erst einmal die Ruhe und dann all diese Fragen.

Abulhawa erzählt die Geschichte von Nahr, einer jungen Palästinenserin, die in Kuwait aufwächst, fliehen muss, sich Stück für Stück radikalisiert, nach Palästina zurückkehrt, im Widerstand („oder was Israel Terrorismus nennt“) kämpft und schliesslich in einem Gefängnis in Israel landet, wo sie ihre Erinnerungen aufschreibt.

Dieses literarische Werk ist eine Reise durch das derzeitige und vergangene Leben der Hauptfigur. Im Kern ist es eine Liebesgeschichte, eine Familiengeschichte. Aber es ist viel mehr als das. Es ist der Einblick in eine Welt mit starken, muslimischen Frauenfiguren, Sexarbeit, Flucht, gesellschaftlichen Normen, Freund:innenschaft, Homosexualität, ein Einblick in die Zerrissenheit in einer solch aussichtslosen Situation wie der Israelisch- Palästinensischen. Abulhawa schafft es dabei, die Lesenden in Nahrs Gedankenwelt eintauchen zu lassen, ohne wieder auftauchen zu wollen – ich habe das Buch verschlungen und konnte es kaum weglegen.

Das 11- seitige Glossar zu Beginn des Buches hilft ausserdem, das Verständnis für all die arabischen Begriffe, die im Buch vorkommen, zu vereinfachen.

Und doch bleibt da dieser Zweifel: das Buch ist gespickt von Israelkritik bis hin zu antisemitischen Aussagen eines Charakters im Buch. Wie ist damit umzugehen? Nachdem ich das Buch gelesen hatte, habe ich die Wikipedia Seite zu Susan Abulhawa gelesen. Dort steht, dass sie Gründungsmitglied von BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) sei. (Zur BDS haben wir ein anderes Buch in der Lotte, das genauso tendenziös geschrieben ist, nur von anti-deutscher Sicht her, daher am besten beide Bücher lesen…) Damit fiel es mir einfacher, das Buch einzuordnen.
Und ja, auch wenn das Buch tendenziös geschrieben ist und ein Charakter antisemitische Aussagen macht, so überwiegt bei mir doch die Freude darüber, endlich muslimische Frauenfiguren als handelnde Subjekte und nicht als Objekte zu lesen. Dass Sexarbeit auf eine nicht bevormundende Art und Weise dargestellt wird. Dass Fluchtgeschichte „von Innen“ erzählt wird.

Abulhawa schreibt am Ende, dass das Buch auf eigenen Erfahrungen, Nachforschungen und Erfundenem basiert. Dabei möchte sie einen Raum der Dankbarkeit schaffen, allen „Mädchen (und Jungen) und Frauen, die ihre Körper verkaufen um zu überleben, oder zu entfliehen, oder Dämonen weiterzutragen, die nicht vertrieben werden können.“

„Reads as a riot act against oppression, misogyny, and shame“ schreibt Fatima Bhutto auf dem Buchrücken, dem bleibt nicht viel hinzuzufügen, ausser: unbedingt lesen!

Rezension Nr. 43

supporto legale – Nessun Rimorso Genova 2001-2021

Sachbuch/Comic – Coconino Press- Fandango – 2021 – ISBN 9788876185700

Das Buch ist auf Italienisch in der Lotte ausleihbar.

Das Buch wurde vom supporto legale herausgegeben, einer Art „Roten Hilfe“, die sich 2004 in Genua gegründet hat. Die Idee ist, dass die betroffenen Menschen, die am G8 in Genua 2001 aktiv waren, nicht alleine gelassen werden und sie Unterstützung auf rechtlicher, finanzieller und sozialer Ebene erhalten. Schon 2006 gab es eine erste Edition: „GEvsG8“, ein Comicband, der schon eine erste Aufarbeitung des G8- Gipfels darstellte.

Nun ist nach 15 Jahren die zweite Edition erschienen. Neue Inhalte, neue Texte, neue Zeichnungen, alte Geschichte. Die staatlichen Verbrechen, die in Genua stattfanden, die nicht aufgearbeitet wurden. Menschen, die für eine eingeschlagene Scheibe kriminalisiert wurden (10 Personen mit Gefängnisstrafen von zusammen 100 Jahren), während ein toter Demonstrant als Kollateralschaden angeschaut wird. Die Repression ist nach wie vor dieselbe, beim G8 in Hamburg hat es sich gezeigt, dass sich das System auch nach Genua nicht geändert hat.

Dieses wichtige und wunderschöne Buch erzählt noch einmal gesammelt die Geschichten von Bolzaneto, von der Piazza Alimonda, von der Diaz- Schule und der „Roten Zone“.

Mit den Werken von 37 Künstler:innen (leider fast ausschliesslich Künstlern) ist es ein visuelles Eintauchen in die Welt um Genua, den G8, Menschen, die dabei waren und Geschichten von denen, die nicht dabei waren, und immer wieder der Feuerlöscher. Es hat mich teilweise zu Tränen gerührt und es berührt mich nach wie vor. Man möchte diese unermessliche Ungerechtigkeit rausschreien. Dies macht dieses Buch. Es ist wichtig, diese Erinnerung wach und lebendig zu halten.

Genova non é finita.